Dr. Marco Gercke, Dr. Jürgen Taeger, Dr. Peter Vorderer, die Netzaktivistin und Publizistin Anke Domscheit-Berg und Dr. Albrecht von Müller (von links) sprachen mit der TV-Journalistin Maybrit Illner über die Risiken und die möglichen Auswirkungen des Internets auf die Gesellschaft.
Foto: Anja Michaeli
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Oldenburg (am) – Bereits zum sechsten Mal hatten am gestrigen Montag, 1. Dezember, die Universität Oldenburg, das Hanse Wissenschaftskolleg und die EWE Stiftung zum Oldenburger Schlossgespräch eingeladen. Über das Thema „Web 3.0: Ist der Mensch im Netz gefangen? Freiheit, Steuerung und Kontrolle im digitalen Zeitalter“ unterhielten sich fünf Experten mit der TV-Moderatorin Maybrit Illner.
90 Minuten lang beantworteten Prof. Dr. Marco Gercke (Direktor des Cybercrime Research Institute, Köln), Prof. Dr. Jürgen Taeger (Rechtsinformatiker, Universität Oldenburg), Prof. Dr. Peter Vorderer (Medien- und Kommunikationswissenschaftlicher, Universität Mannheim), die Netzaktivistin und Publizistin Anke Domscheit-Berg (Mitbegründerin des „Government 2.0 Netzwerk Deutschland“) und Philosoph Prof. Dr. Albrecht von Müller (Direktor Parmenidas Center for the Study of Thinking und LMU München) die Fragen der gut informierten Moderatorin Maybrit Illner vor rund 260 Zuhörerinnen und Zuhörern. Auf die freien Plätze hatte sich im Vorfeld 400 Interessierte beworben.
Prof. Dr. Reto Weiler, Rektor vom Hanse Wissenschaftskolleg, widmete den Abend dem im September verstorbenen Autor und FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, der in seinem Buch „Payback“ (2009) die Entwicklungen im Informationszeitalter stark kritisiert hatte: „Das Internet macht unser Hirn kaputt.“ Zwischen Bedenken und Warnungen betonten aber die Gäste die Vorzüge und Großartigkeit des Internets – wenngleich die Probleme im Vordergrund standen.
Mit dem Vergleich zur Boykott-Massenbewegung gegen die Volkszählung 1983/87 startete die Expertenrunde ihren Weg zum Web 3.0. Dieser starke Protest damals könnte in der zeitlichen Nähe zu Nazi-Deutschland begründet sein, meint Dr. Marco Gercke. Der Anlass vor 30 Jahren sei aus heutiger Sicht minimal gewesen, so Dr. Jürgen Taeger mit Blick auf die heutigen privatwirtschaftlichen Datensammler wie Facebook und Google und Geheimdienste wie BND und NSA.
Der Umgang mit Big Data (Sammlung und Auswertung großer Datenmengen) birgt Risiken für Persönlichkeitsrechte. Dr. Jürgen Taeger nannte Facebook als Beispiel: „Das Unternehmen versucht sogar, durch Manipulation Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen. Darüber muss man sich Gedanken machen“. Außerdem würden persönliche Daten an Drittanbieter weitergegeben. Erfreulich sei, dass dazu jetzt ein erstes Urteil in die richtige Richtung gefällt wurde. Die Menschen hätten ein Gefühl der Ohnmacht, sagte Netzaktivistin Anke Domscheit-Berg, die sich selbst aber als optimistisch bezeichnet und glaubt, dass die Entwicklung nun an einer Gabelung stehe. Es müssten jetzt die richtigen Entscheidungen getroffen werden. Sie forderte beispielsweise die Veränderung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB), die einfach und kurz sein müssten: „Damit die Menschen wissen, was sie unterschreiben“. Sie wies darauf hin, dass auch das „Internet der Dinge“ eine immer größere Rolle spiele. Dr. Marco Gercke ist sich darüber bewusst, dass die Datensammlungen nicht verhindert werden können. Aber amerikanische Unternehmen könnten nicht deutschen Datenschutzregeln unterworfen werden. Domscheit-Berg verwies darauf, dass Datenschutz Verbraucherschutz sei und die europäischen Länder mit ihrer wirtschaftlichen Bedeutung als starker Verhandlungspartner gemeinsam auftreten sollten. Gegen den Vorschlag, sich einfach zu verweigern, lehnte sich Dr. Albrecht von Müller: „Es wäre schade, wenn wir uns die Möglichkeiten des Internets vorenthalten würden“.
Ein weiteres Thema des Abends waren die Snowden-Enthüllungen über die Sammlerwut der Geheimdienste. Das ausgerechnet die Abhörung des Kanzlerin-Handys zu einem Aufschrei geführt habe, erstaunte die Gesprächsteilnehmer. Was die Regierung daraus gelernt habe, fragte sich Domscheit-Berg. „Das ist cool, das wollen wir auch haben“, meinte sie ironisch mit Blick auf den BND, der trotz der Vorwürfe jetzt 300 Millionen für die Echtzeitüberwachung bekommen soll. Sie forderte den „gläsernen Staat“ (Open Data) und einfache Möglichkeiten der Verschlüsselung. Und Gercke rief aus: „Ich traue Regierungen nur so weit, wie ich sie werfen kann“. Angesprochen wurde auch das sogenannte „Schengen Routing“ oder „Schland Net“ als Abwehrmaßnahme gegen Geheimdienste und Unternehmen durch das Halten der Daten in europäischen oder deutschen Grenzen. Dass sich Daten nicht an Grenzen halten, war die Meinungsmehrheit am gestrigen Abend. Nationale Lösungen gefährden das offene Internet, außerdem würden regionale wirtschaftliche Interessen eine Rolle einer solchen Forderung spielen.
Als weiteres Problem wurden die vermehrten Cybercrime-Attacken besprochen. Vorderer erklärte dazu, dass sich die Menschen z.B. mit Firewalls selbst helfen müssten. Er betonte aber auch, dass die Polizei immer besser würde. Für mehr Sensibilität bei kleineren Unternehmen warb Taeger. Auch bei großen Firmen liege noch einiges im Argen. Domscheit-Berg forderte Schulungen für die Nutzer, denn Fehler böten die größten Einfallstore für Angreifer.
Zur Zukunft des Internets sagte von Müller: „Wir sind erst am Anfang der Nutzung dieser Technologie. Es werden sich noch ganz andere Horizonte auftun“. Das Denken werde unterstützt, aber nicht ersetzt. Er rechnet nicht mit dem „programmierten Menschen“, dazu sei das Denken zu vielfältig. Beim Thema Shitstorm und Trolle hat Domscheit-Berg die Hoffnung, dass die Menschen einen empathischen Umgang im Netz noch lernen werden. Vorderer glaubt aufgrund von Studien, dass sich schon jetzt ein Gefühl dafür entwickelt, bestimmte Qualitäten in der Kommunikation verloren zu haben und die Menschen gegensteuern werden.