(Achim Neubauer) Nach 22 Jahren Ermittlertätigkeit geht die Bremer Tatort-Kommissarin Inga Lürsen in den Ruhestand. Erst allein, dann gemeinsam mit ihrem Kollegen Nils Stedefreund löste sie 39 Fälle von Kapitalverbrechen in der Freien und Hansestadt. Am Ostermontag verabschiedet sich das Duo – und dafür hat Radio Bremen noch einmal das ganz große Besteck herausgeholt.
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„Bigger than Stedefreund, bigger than Bremen, bigger than life.“ Es gehört zu den Besonderheiten der Bremer Tatort-Beiträge mit den Ermittlern Lürsen (Sabine Postel) und Stedefreund (Oliver Mommsen), dass sie häufig eine Geschichte erzählten, die sich bei genauem Hinsehen eigentlich als „zu groß“ für die Stadt an der Weser erwies. Manchmal ging das beindruckend gut, wie im Film „Brüder“ (Macht und Einfluss von arabischen Clans in Bremen). Um so größer war die Fallhöhe zum Beispiel bei „Echolot“ (künstliche Intelligenz) als weder die Geschichte, noch die finanziellen Möglichkeiten des Senders dem Thema wirklich gerecht werden konnten.
Für den nun letzten Fall der Kommissare hatte sich das Team um Redakteurin Annette Strelow vorgenommen, einen würdigen, einen großen Abschluss für die Lürsen-Serie zu gestalten – und das ist wahrlich gelungen. Die wichtigste Grundentscheidung für „Wo ist nur mein Schatz geblieben?“ war, Regisseur Florian Baxmeyer mit dem Schreiben des Drehbuchs zu betrauen. Er hatte seit 2009 nicht weniger als 13 Tatorte für Radio Bremen inszeniert. Für ihn das erste Buch, das er unterstützt von Michael Comtesse erdachte. Ganz tief taucht er dazu in die Vergangenheit von Nils Stedefreund ein. Die Handlung des abschießenden Lürsen / Stedefreund Films knüpft an eine Episode aus dem Jahr 2013 an. Am Ende des Films „Puppenspieler“ hatte Stedefreund seiner Partnerin eröffnet, dass er sich für ein Programm „Ausbildung von Polizisten in der dritten Welt“ in Afghanistan beworben hatte.
Nun stellt sich heraus, dass sich hinter dem vermeintlichen Aufenthalt am Hindukusch eine ganz andere Aktion verbirgt. Durch – zunächst undurchsichtige – Rückblenden und Flashbacks wird dann langsam deutlich, welches Trauma Stedefreund seit dieser Zeit verfolgt. So gerät der schlaksige Kommissar immer tiefer in Schwierigkeiten und die besondere Beziehung zwischen Inga Lürsen und ihm wird auf eine sehr ernste Probe gestellt. So holt der Film nun wieder alle zusammen, die in den ganzen Jahren zum Kosmos des Bremer Teams dazu gehörten: Linda Selb, die „seltsame“ BKA-Ermittlerin (Luise Wolfram), Helen Reinders, Ingas Tochter und Kommissarin vom Dienst (Camilla Renschke), Dr. Katzmann, den ironischen Rechtsmediziner (Matthias Brenner) und sogar Kriminalassistent Karlsen (Winfried Hammelmann) hat nach langer Zeit mal wieder einen etwas größeren Auftritt. Dabei gerät der die Ermittlungen auslösende Todesfall recht schnell in den Hintergrund.
Arbeiter entdecken beim Straßenbau eine Frauenleiche. Die Immobilienfirma, für die die Ermordete gearbeitet hatte, steht im Mittelpunkt von Untersuchungen der verdeckten BKA-Ermittler Maller (Robert Hunger-Bühler) und Kempf (Philipp Hochmair). Die beiden versuchen mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln die Arbeit der Bremer Mordkommission zu torpedieren um ihre eigene Untersuchung schützen und weiter verfolgen zu können.
Von den Belastungen, denen eine Beziehung ausgesetzt sein kann, erzählt der Tatort in drei Strängen. Nicht nur das Vertrauensverhältnis von Lürsen und Stedefreund ist arg gestört, auch bei Maller und Kempf stellt sich die Frage nach Loyalität und schließlich am eindrücklichsten geschildert, geschrieben und inszeniert bei den Eltern eines kleinen Babys. Wie ist damit umzugehen, wenn der Zeitpunkt der Entscheidung da ist? Deutlich wird, dass Lügengebilde oder Unehrlichkeiten den Kern des Miteinander treffen oder gar zerstören? Jedes der Paare findet dafür eine je eigene Lösung; auf ihre Weise tragisch werden alle drei Versuche ausgehen.
Ein angemessenes Finale für Stedefreund und Lürsen; ein sehr emotionaler Abschluss für das ganze Team vor und auch hinter der Kamera, das am Abend der preview in Erinnerungen schwelgte. Nach 24-jähriger Pause hatte sich Radio Bremen ab dem 28. Dezember 1997 mit „Inflagranti“ wieder an der Reihe Tatort beteiligt. Sabine Postel spielt den Prototypen einer selbstbewussten, sozial engagierten, alleinerziehenden Mutter, die das Bett abwechselnd mit dem Polizeipsychologen und dem Ex-Mann teilt. Der barbusige Auftritt der damals 17-jährigen Camilla Renschke gehört ebenso zum ersten Lürsen-Fall, wie der ausführliche Blick auf Roland, Ostertor-Viertel und Straßenbahn.
Ab der Folge „Eine unscheinbare Frau“ (11. November 2001) gehört dann Nils Stedefreund zum Ermittlerteam, erst als Konkurrent und voller Hoffnung, die Leitung der Mordkommission übernehmen zu können, entwickelt er sich („stets Freund“) zu einem Kollegen und Vertrauten der Kommissarin. Zum Rückblick gehört dann auch der Hinweis auf die Autoren, die die Konstellation der Figuren definierten: Jochen Greve, Thorsten Näter, Christian Jeltsch und Wilfried Huismann. Zusammen mit Annette Strelow entstanden Filme, die oft polarisierten; gesellschaftspolitische Themen wechselten sich ab mit intensiven Familiendramen.
Die Ära „Lürsen / Stedefreund“ ist nun an ihr Ende gelangt; die Zukunft des Bremer Tatort bleibt noch sehr verschwommen. Vor allen auch deshalb, weil die Redaktion, was den Blick nach vorne betrifft, sich verschlossener zeigt als die sprichwörtliche Auster. Voraussichtlich erst Anfang 2020 sollen die Dreharbeiten mit dem Nachfolgeteam beginnen, so dass sich Fans des Bremer Tatorts wohl auf eine knapp anderthalbjährige Ausstrahlungspause werden einstellen müssen.
Interessant zu wissen
- „Wo ist nur mein Schatz geblieben“ wurde vom 25. September bis 27. Oktober in Bremen und Umgebung gedreht.
- „Abschaum“ (Satanistenszene), „Schiffe versenken“ (kriminelle Reeder) und „Brüder“ bezeichnet Sabine Postel als ihre LieblingsTatorte; Oliver Mommsen nennt ebenfalls „Brüder“ als nachdrücklichsten Film.
- Florian Baxmeyer erinnert sich besonders an „Schiffe versenken“, seinen ersten Bremer Tatort. Als es für eine Sturmszene nur schönstes Sonnenwetter gab, stellte er Sabine Postel in ein Seewasserinferno, das aus Feuerwehrschläuchen gespeist wurde: „Wie die erste Reihe einer 1.-Mai-Demo, direkt vorm Wasserwerfer. Eigentlich komisch, dass die mich danach noch mal engagiert haben.“