Farschid Ali Zahedi (links) und Dr. Rolf Rickhey berichteten über einen Strafprozess in Oldenburg vor 50 Jahren, der NS-Verbrechen aufgearbeitet hat. Rickhey war einer der damaligen Richter.
Foto: Katrin Zempel-Bley
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Oldenburg / zb – Vor 50 Jahren wurde vor dem Landgericht Oldenburg ein Strafprozess eröffnet, der in der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen in der Bundesrepublik aber auch international Aufmerksamkeit auf sich zog. Mit dem ehemaligen Gebietskommissar Erich Kassner aus Cloppenburg stand erstmals ein Chef der örtlichen deutschen Zivilverwaltung der im Zweiten Weltkrieg besetzten Ostgebiete vor einem bundesdeutschen Gericht. Ihm und dem Mitangeklagten Polizeimeister Fritz Manthei aus Süddeutschland wurde die Beteiligung an der Ermordung von 38.000 Juden der ukrainischen Stadt Kowel vorgeworfen.
Das Team von Werkstattfilm Oldenburg unter der Leitung von Farschid Ali Zahedi befasste sich seit 2011 mit diesem in Vergessenheit geratenen Verbrechen, der Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung in Kowel sowie mit dem Prozess in Oldenburg. Rund 30 Prozessakten haben die Mitarbeiter durchgearbeitet, suchten Zeugen auf, darunter den damaligen Richter und Berichterstatter des Gerichts, Dr. Rolf Rickhey. Ende Oktober sollen ein Dokumentarfilm und eine Ausstellung über den Prozess gezeigt werden. „Beide Themen wurden bis heute weder publizistisch noch wissenschaftlich behandelt“, berichtet Ali Zahedi. Der Dokumentarfilm basiert auf der kompletten Aufarbeitung der Prozessakten sowie den Dreharbeiten an Originalschauplätzen in der heutigen Ukraine.
„Kowel in der heutigen Westukraine war vor dem Zweiten Weltkrieg eine Stadt mit einer jüdischen Gemeinde von enormer kultureller Bedeutung und Vielfalt. Während der von Juni 1941 bis Anfang 1944 dauernden deutschen Besatzungszeit wurde die jüdische Bevölkerung fast vollständig vernichtet“, berichtet Zahedi. Erich Kassner, als Gebietskommissar Chef der örtlichen deutschen Zivilverwaltung, und der Polizeimeister Fritz Manthei wird vorgeworfen, daran maßgeblich beteiligt gewesen zu sein. „Kassner“, so erinnert sich Rickhey, „hatte beruflich nichts zustande gebracht und trat bereits 1932 in die NSDAP ein, wo er Karriere machte.“
Über ein Jahr dauerte der Prozess, der an Rolf Rickhey nicht spurlos vorübergegangen ist, wie er heute während eines Pressegesprächs erzählte. Das Gericht mit sechs Geschworenen sah sich zwei Männern gegenüber, „die 20 Jahre nach Kriegsende immer noch die Fahne des Nationalsozialismus hochhielten und Juden als Untermenschen bezeichneten und erfuhr von Zeugen von unvorstellbaren Gräueltaten“, wie der heute 91-Jährige berichtete.
„Von zentraler Bedeutung für unsere Arbeit sind Zeitzeugeninterviews mit Überlebenden der Ereignisse in Kowel und ihren Angehörigen in Israel. Sie traten zum Teil bereits im Prozess als Zeugen auf und verdeutlichen durch ihre sehr persönlichen Aussagen die Geschehnisse in Kowel und die Bedeutung des Prozesses in Oldenburg. Vervollständigt werden diese Eindrücke durch ein Interview mit Rolf Rickhey“, berichtet Ali Zahedi. So rückt der Film drei jüdische Frauen, die von ihren persönlichen Erlebnissen berichten, und einen Wehrmachtsarzt aus Lingen, der in Kowel durch seine außergewöhnliche Zivilcourage auffiel, in den Mittelpunkt. Von ihm stammt der Satz „Wir dachten, die Sonne geht nicht mehr auf“. Genauso lautet der Filmtitel.
Beide Angeklagten wurden 1966 wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Mantheis lebenslängliche Haftstrafe wurde 1970 vom niedersächsischen Ministerpräsident Alfred Kubel (SPD) in eine 25-jährige Haftstrafe umgewandelt, wobei sie unter Bewilligung einer fünfjährigen Bewährungsstrafe ausgesetzt wurde. Kassners Begnadigungsverfahren wurde in mehreren Schritten zwischen 1978 und 1986 unter Ministerpräsidenten Ernst Albrecht (CDU) gemildert und schließlich erlassen. Kassner wurde 1981 aus der Haft entlassen, was Rolf Rickhey nicht nachvollziehen kann.
Weitere Informationen unter www.werkstattfilm.de.