Oldenburg (Achim Neubauer) Eine gute Tradition ist es inzwischen geworden, dass in den letzten Jahren bei fast jedem Oldenburger Filmfest eine Folge der Reihe „Tatort“ ihre Welturaufführung erleben konnte. So stellte in diesem Jahr der NDR im Casablanca-Kino den neuen Beitrag von Kommissarin Charlotte Lindholm vor, der am 5. November in der ARD ausgestrahlt werden soll.
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Nur kurz – gerade mal eine knappe Viertelstunde – gaben sich Maria Furtwängler, die Hauptdarstellerin, und Christian Granderath (Redakteur und Abteilungsleiter Fernsehspiel des NDR) in Oldenburg die Ehre. Knapp 200 Interessierte hatten sich im Saal 1 des Casablanca-Kinos eingefunden, um der Premiere beizuwohnen. Den herzlichen Empfang durch Filmfestchef Torsten Neumann und das Publikum erwiderte Furtwängler mit dem Bekenntnis, sie freue sich „riesig“ zum ersten Mal in Oldenburg sein zu können. Angesprochen auf eine weitere Aufführung ihres Films in der Justizvollzugsanstalt (JVA) verwies sie darauf, dass ihrer Meinung nach dieser Film „wirklich gut ins Gefängnis“ passe; sie allerdings nicht dabei sein könne. Mit dem Dank an Sender, Autor und Regisseurin war dann ihr der Aufenthalt im Casablanca-Kino im Wesentlichen auch schon beendet und Torsten Neumann konnte sein Jackett wieder ausziehen. Immerhin blieben Kerstin Ramcke, die seit 1995 insgesamt 64 Tatorte des NDR produziert hat, und der Redakteur Christoph Pellander (sein zweiter Tatort) und beantworteten nach der Aufführung die Fragen der interessierten – in der überwiegenden Mehrzahl – weiblichen Premierengäste.
Bereits im November 2016 war der Tatort „Der Fall Holdt“, der in der Nähe von Walsrode spielt, in Appel, Rosengarten und Neu-Wulmsdorf im Landkreis Harburg von Regisseurin Anne Zorah Berrached nach einem Drehbuch des Grimme-Preisträger Jan Braren inszeniert worden; für beide ihr Debüt am Tatort.
Ein Familiendrama entwickelt sich als Julia, die Ehefrau des Bankers Frank Holdt (Aljoscha Stadelmann) entführt wird. Mit einer Lösegeldforderung von 300.000 Euro („in gebrauchten Scheinen und keine Polizei“) konfrontiert, wendet sich der Erpresste um Unterstützung an seine Schwiegereltern. Als die, gegen seinen erklärten Willen die Polizei einschalten, übergibt Holdt das Lösegeld alleine und nun müssen Charlotte Lindholm und ihre Kollegin Frauke Schäfer (Susanne Bormann) die Erpresser finden, ohne das Leben von Julia Holdt zu gefährden.
Eigentlich ein ganz einfacher Plot, der in seinen Grundzügen (und vielen Details!) an den Kriminalfall Maria Bögerl erinnert. Versäumnisse bei der Spurensicherung, Schwierigkeiten bei der Lösegeldübergabe, umstrittener öffentlicher Appell an die Entführer; alle diese Umstände der Entführung aus dem Jahr 2010 finden sich im Film wieder. Die – bis heute – teils massive Kritik an der Arbeit der Polizeibehörden fokussiert sich im Tatort allerdings allein auf die Professionalität von Charlotte Lindholm, so dass sich dieser Beitrag des NDR um einiges düsterer darstellt als andere Filme mit der Kommissarin aus dem LKA in Hannover.
Zu Anfang des Films dauert es nur wenige Minuten, bis aus einer überschwänglich feiernden Lindholm eine verletzte, weil verprügelte und zudem gedemütigte Frau wird, die nun mit ihren – nicht nur äußerlichen – Verletzungen in der Familientragödie ermitteln muss. Alles das, was sonst die Zeichnung der Kommissarin Lindholm ausmachte, ihre Selbstständigkeit, Distinguiertheit, ihre Stärke sind ihr mit dieser Anfangsszene genommen. Ganz dünnhäutig, ermittelt sie nun in einem Fall, in dem ihr Gegenüber Frank Holdt durch die Entführung seiner Frau eine ähnliche Dekonstruktion seiner bürgerlichen Existenz erlebt. Spiegelbildlich treffen die Lebenssituationen von Lindholm und Holdt aufeinander; ironisch überspitzt spiegeln sich dagegen Äußerlichkeiten von Lindholm und ihrer jungen Kollegin Schäfer („schöne Bluse“), während die beiden in ihrer Ermittlungsarbeit unterschiedlicher nicht sein könnten; die LKA-Ermittlerin jedenfalls verrennt sich hoffnungslos in ihren eigenen Unsicherheiten.
„Ein ambivalentes Psychoduell entspinnt sich, aus dem einer der klügsten und intensivsten deutschen Kriminalfilme seit langer Zeit entsteht.“ So urteilten die Oldenburger Festivalmacher, als sie diesen Film einluden. Entscheidenden Anteil daran haben, außer dem klugen Buch von Jan Braren, zum einen die Inszenierung durch Anne Zohra Berrached, zum anderen allerdings vor allem Aljoscha Stadelmann, der überzeugend Frank Holdt, den Ehemann der Entführten, darstellt, der zu allem Überfluss auch noch selbst unter Verdacht gerät.
Mutig, aber durchaus erfolgreich also die Entscheidung des NDR, der 35-jährigen Regisseurin Berrached für ihren erst dritten Langfilm einen Beitrag des Formats Tatort anzuvertrauen.