Oldenburg (am/ce/vs/Paul Wieting) Auch beim 28. Internationalen Filmfest Oldenburg geht es ab 15. September wieder um Filme, Filme, Filme. Die Vorführungen werden vom Opening über die Sunday Shorts bis zur Closing Night im Mittelpunkt der OOZ-Berichterstattung stehen.
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Kurze Inhaltsangaben und Kritiken der Filme veröffentlichen wir möglichst zeitnah, zusätzliche Fotos und Tipps sind auf unseren Instagram– und Facebookkanälen zu finden. Dieser Artikel wird laufend aktualisiert.
Die Eröffnung
Der rote Teppich ist gesaugt und ausgerollt. Die VIP-Autos sind startklar und haben am Mittwoch vor der Kongresshalle Stars und Sternchen in das Oldenburger Blitzlichtgewitter entlassen.
Zur Eröffnungs-Gala mit der Weltpremiere von „Leberhaken“ waren bereits zahlreiche Gäste auf dem roten Teppich zu sehen. Dazu gehörten vom Eröffnungsfilm Torsten Rüther, Luise Grossmann, Maher Maleh und Jürgen Krause. Des weiteren waren anwesend die Ehrengäste Ovidio G. Assonitis und Mattie Do.
Somtow Sucharitkul, Kittitat Kowahagul, Michael Mailer, RP Kahl, Scott Monahan, Dakota Loesch, Patrycja Płanik, Dominik Krawiecki sowie Deborah Kara Unger stellten sich ebenfalls den zahlreichen Fotografen und der Fragen der Journalisten.
Die große Überraschung des Abends waren die musikalischen Beiträge des thailändischen Sinfonieorchesters in Kooperation mit dem Bremer Jugendsinfonieorchester. Als eigens für die Eröffnung geschrieben und zu Ehren von Ovidio G. Assonitis, gab es die Weltpremiere der Titelmusik von „Piranhas 2“ für Sinfonieorchester.
Die „Five days to blow your mind“ können beginnen und ab jetzt heißt es für uns und Oldenburg: „Filme, Filme, Filme“. (vs)
Weltpremiere: „Leberhaken“ (D, 2021)
Regie: Torsten Rüther
Story:
Die junge Steph (Luise Großmann) steht nicht auf der Sonnenseite des Lebens und ist stets auf der Suche nach Anerkennung. Die will sie sich eines nachts als junge Boxerin im Boxkeller vom ehemaligen Schwergewichtler Rick (Hardy Daniel Krüger) in Berlin-Wedding holen. Nach einer Verletzung aus dem Ring (und damit auch seinem Leben) geworfen, lebt er dort den geplatzten Traum als desillusionierter Coach. Zwei Menschen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können, treffen in dieser Nacht mit ihrer Vergangenheit, Hoffnungen, Träumen und Ängsten aufeinander.
Regisseur Torsten Rüther lässt seine beiden Protagonisten in diesem nächtlichen Kammerspiel auf engstem Raum, nur von zwei Kameras begleitet, agieren. Dem Regiedebüt gingen in Zeiten der Pandemie vier Wochen intensive Proben mit chronologischer Abfolge der Handlung voraus. Damit ist es dem Kameramann gelungen, Bilder zu kreieren, die nichts von Abstand halten, sondern hautnah dran sind und schonungslos drauf halten. Schweiß und Blut in dem Boxkeller sind förmlich zu spüren und zu riechen.
Wenn zwei derart unterschiedliche Menschen mit ihrer eigenen Geschichte nachts in einem spärlich beleuchteten Keller aufeinander prallen, kann man sich auf intensives Kino freuen. Aber so lang wie die Leidensgeschichten von Steph und Rick sind, so lang ist auch „Leberhaken“. Zu lang. Die hölzernen Dialoge kommen den beiden Akteuren wie nur auswendig gelernt über die Lippen und lassen keine Spannung aufkommen. Die Sätze der zwanzigjährigen Berliner Göre, sind ihrer Generation nicht entsprechend. Hardy Daniel Krüger zeigt in den knapp zwei Stunden nur einen Gesichtsausdruck. Nur zu selten sind bei den Beiden echte Emotionen zu spüren, wo der Film hätte packen und Fahrt aufnehmen können. (vs)
Weltpremiere: „Swing“ (USA, 2021)
Regie: Michael Mailer
Story:
Die erneute Niederlage im nationalen Ruderwettkampf setzt dem High School Studenten Alex (Alexander Ludwig) gehörig zu. Auch sein egoistischer und einflussreicher Vater setzt ihn unter Druck, will er doch seinen ehrgeizigen Sohn unbedingt im Achter des olympischen Ruderteams sehen. Chris (Charles Melton) ist der Neue. Er verachtet den Rudersport, tritt der Mannschaft aber dennoch bei, um sein Stipendium nicht zu verlieren. Mit dem Ruderer-Ass John (Alex MacNicoll) teilt er sich das Zimmer und die beiden freunden sich an. Alex sieht seine Position als Kapitän in Gefahr. Kann der neue Trainer und Vietnam Veteran Coach Murphy (Michael Shannon) mit seinen eigenwilligen und kräftezehrenden Trainingsmethoden die so unterschiedlichen Charaktere in einem Boot zu einem Team formen und zum Sieg führen?
Der Film „Swing“ des Grammy-Gewinners Michael Mailer ist amerikanisches Drama auf ganz hohem Niveau. Waren die unterschiedlichen Aspekte des Films bereits einzeln schon in anderen Streifen zu sehen, schafft der Regisseur es auf sehr unterhaltsame, aber vor allem äußerst spannende, gefühlvolle und intensive Weise die widersprüchlichen Antriebsmotive für den Rudersport der jungen Studenten zusammenzufügen. Auch die ästhetischen Bilder von Kameramann Edd Lukas tragen zu diesem sehenswerten Film bei. Ist der Ausgang der Geschichte auch von Beginn an klar und darf auch die klassische (aber überaus anrührende) High School-Liebesgeschichte nicht fehlen, überrascht „Swing“ mit unvorhergesehen Wendungen, Intrigen und auch Schicksalsschlägen. Besonders die drei jungen Hauptdarsteller und ihr Coach überzeugen und berühren mit ihrem intensiven Spiel um Anerkennung, Integrität, männlichem Imponiergehabe, verletztem Stolz und aufkeimendem Verantwortungsgefühl. Dieser Film um Sportsgeist, Teamspirit und Integrität findet hoffentlich seinen Weg in die Kinos und die Herzen des Publikums. Verdient hat er es auf jeden Fall. (vs)
Weltpremiere: „What happened to the wolf?“ (Myanmar, 2021)
Regie: Na Gyi
Story:
„Meer der Wolken“ heißt der mystische Ort, den die beiden Frauen Way und Moe vor ihrem Tod noch sehen wollen. Nicht nur altersmäßig unterschiedlich, lernen sich die Beiden im Krankenhaus kennen. Moe leidet an Krebs, Way wurde mit einem Herzfehler geboren. Zwei Frauen teilen ein Schicksal. Way ist traditionell und wohlsituiert. Moe ist rebellisch und lebt als Waise bei ihrem Bruder, der als Arzt im Krankenhaus der beiden Frauen arbeitet. Eine ungewöhnliche Freundschaft entsteht, in deren Verlauf Way die traditionell streng erzogene Moe an die einfachen Freuden des Lebens, wie Bücher und Popmusik, heranführt.
Der Regisseur Na Gyi erzählt in wunderbar eingefangenen Bildern des Kameramannes die Lebens- und Leidensgeschichten dieser unterschiedlichen Frauen mit ihren individuellen Sozialisationen, Träumen und Ängsten. Jeder der beiden Frauen geht auf ganz eigenwillige Art mit Krankheit und Tod vor Augen um. Freud, Leid, Hoffnungslosigkeit und Visionen liegen dabei immer dicht beieinander. Der Film lebt von den beiden eindrucksvollen Darstellerinnen, die sich ihrem Schicksal nicht beugen wollen und zu Freundinnen, wenn nicht sogar zu Verbündeten gegen den Tod werden. Getragen wird dieser eindrucksvolle Film zugleich von einem sehr hörenswerten Soundtrack, der eine Hörprobe liefert, wie Songwriter und Rapper in Myanmar klingen. Dass Na Gyi es zum Ende des Films nicht schafft, die Geschichte der beiden Freundinnen zügig zu Ende zu bringen und sich die Reise an den mystischen Ort mit kurzen Blacks immer wieder mit Szene an Szene reiht, ist der einzig kleine Beigeschmack in einem ansonsten guten Film.
Erwähnt werden muss noch, dass Na Gyi und seine Ehefrau Paing Phyo Thu ihre Berühmtheit in Myanmar nutzten, um gegen den Putsch der Militärjunta zu protestieren. Seit daraufhin ein Haftbefehl gegen die beiden ausgestellt wurde, mussten sie untertauchen. Die beiden Hauptdarstellerinnen befinden seit mehreren Monaten im Gefängnis. (vs)
Weltpremiere: A Glimpse of Happiness (FRA, 2021)
Regie: Raffaël Enaul
Story:
Ben will seinem Leben ein Ende setzen und das versucht er immer und immer wieder. 17-mal hat’s bisher einfach nicht geklappt. Als plötzlich ein bekannter Serienkiller in seiner Wohnung steht, denkt er, dass seine Gebete endlich erhört wurden: Er wird nun endlich sterben! Doch weit gefehlt, denn Pierre, „der Schlächter der Minderheiten“, fühlt sich durch den Todeswunsch seines nächsten Kandidaten und die Tatsache, dass dieser doch keiner Minderheit angehört, geprellt und nimmt ihn stattdessen in seine Obhut.
Raffaël Enauls Regiedebüt, das als Weltpremiere beim Filmfest Oldenburg lief, ist eine herrlich absurde schwarze Komödie, die selbst davor nicht zurückschreckt, einen scheinbar rassistisch motivierten Mörder in ein positives Licht zu rücken. Natürlich ist dann doch alles gar nicht so schlimm, wie es erst mal klingt, aber – nunja – zerstückelte Menschen gibt es trotzdem. Ein großes Highlight ist der Cameo-Auftritt von Schauspielerin und Sängerin Caroline Loeb („C’est la ouate“), die einen wundervollen anderthalbminütigen Monolog halten darf, der rein gar nichts mit der Handlung zu tun hat. Buddy Giovinazzo, der das Q&A im Anschluss moderierte, sagte nicht ohne Grund, dass solche Szenen eigentlich immer als erstes der Postproduktion zum Opfer fallen. Aber nein, die bezaubernde Szene durfte bleiben und verleiht dem eh schon wirklich sehenswerten kurzen Film (er geht tatsächlich nur 52 Minuten!) noch eine ganz besondere weibliche Note. Große Empfehlung – auch und vor allem wegen der beiden herausragenden Hauptdarsteller Fabien Caleyre und Georges d’Audignon als perfektes „Partners in crime“-Duo. (ce)
Deutschlandpremiere Kurzfilm: The Danger in Front (CAN, 2020)
Regie: Alexis Chartrand
Story:
Ein Barbier sieht sich und seine Familie von den Stadtbewohnern bedroht. Ständig auf der Suche nach der besten Lösung, um sich von dieser Bedrohung zu befreien, verliert er sich auf humorvolle Weise in einer Reihe endloser Optionen. Dabei schreckt er vor keiner Gewalttat zurück. Schließlich plant er nahezu die gesamte Stadt zu ermorden. Wird es ihm gelingen?
„The Danger in Front“ ist ein charmanter Kurzfilm, der nur gelobt werden kann. Zu sehen sind siebzehn Minuten purer schwarzer Humor, die Lust auf mehr machen. Der Film überzeugt mit einer simplen, aber äußerst kreativen Inszenierung und grandiosen Darstellern. (Paul Wieting)
Deutschlandpremiere: „Mad God“ (USA, 2021)
Regie: Phill Tippett
Story:
Nach einer kurzen Videobotschaft von Regisseur und Drehbuchautor Phill Tippet an das Oldenburger Filmfest-Publikum, geht es los. In großen roten Buchstaben erscheint der Titel „MAD GOD“ auf der Leinwand, gefolgt von einer apokalyptischen Bibel-Passage aus Levitikus. Es beginnt ein Opus Magnum, der Stop-Motion Film, an dem der Oscargewinner 30 Jahre lang gearbeitet hat: Ein unbekannter Assassine wird mittels Sonde in eine dunkle Unterwelt voller Monster und grauenvollen Kreaturen hinabgelassen. Die Zuschauer begleiten ihn auf seiner Mission durch eine Welt voller Schrecken. Gefahren lauern hinter jeder Ecke. Einer Karte folgend, durchstreift er dystopische Landschaften, die überfüllt sind von nutzlosen Sklaven-Droiden. Viele Fragen kommen auf. Was ist seine Mission? Wird er sein Ziel erreichen? Ist er der einzige seiner Art? Welche Hierarchie gibt es in dieser Welt? Die Zuschauer werden über manches davon im Unklaren gelassen.
Wohl kaum ein anderer Film verkörpert dermaßen die Geschichte des Films, wie „Mad God“, der sich über 30 Jahre Filmhistorie erstreckt. Trotz der langen Arbeit, wirkt alles wie ein kontinuierliches Geschehen. Die erwarteten unschönen Qualitätsunterschiede, durch die Entwicklung der Technik, sind fast nicht zu erkennen.
Der Film „Mad God“ kommt vollständig ohne Dialog aus. Er bedient sich einer ganz eigenen, einzigartigen Sprache. Eine Story im klassischen Sinne gibt es nicht und eine Struktur ist kaum zu finden. Der Film lebt von reinem Horror und purer Absurdität. Tippet spricht statt einer Story, von einer „Narrative“, von der aus er während seiner dreißig Jahre langen Arbeit an dem Film, immer wieder neue Abzweigungen einschlagen konnte. Das ist echtes independent-storytelling. Die vielen Mitwirkenden an diesem Film haben verstörende Welten voller Absurdität geschaffen. Einen großen Anteil daran hat unter anderem auch der Sound-Designer Richard Beggs geleistet. Denn es darf nicht vergessen werden, dass bei dieser Art von Film, nicht nur das Visuelle komplett von Grund auf gestaltet werden muss. Auch die gesamte Klangwelt musste vollständig neu kreiert werden. Dies ist in grandioser Weise gelungen.
Phill Tippett hat mit „Mad God” ein monumentales Meisterwerk geschaffen, das beim einmaligen Schauen nicht vollständig erfassbar ist. Dieser atemberaubende Film geht noch über die angsteinflößenden und kuriosen Bilder hinaus. Von Leitmotiven bis zu Symbolen, gibt es vieles mehr zu entdecken. (Paul Wieting)
Europapremiere: Come to harm (Island, 2021)
Regie: Anton Karl Kristensen, Ásgeir Sigurðsson
Story:
Zeit seines Lebens übernimmt der 19-jährige Oliver die Rolle des Familienoberhauptes. Das Verhältnis zur Mitte ist zwiegespalten. Dafür kümmert sich Oliver liebevoll um seinen kleinen Bruder. Im Gegensatz zu seiner Mutter, deren Drogensucht immer wieder das mühsam aufrecht erhaltene Familienleben stört, hat Oliver einen Job. Ohne Vater lebt die Kleinfamilie in schlichten Verhältnissen. Als der kleine Bruder von Drogendealern als Faustpfand für die Schulden der Mutter gekidnappt wird, beginnt für den Heranwachsenden für alle Beteiligten eine höllische Nacht.
„Come to harm“ ist wie ein Schlag in die Magengrube. Direkt und unvermittelt. In schonungslosen Bildern und mit offener Gewalt zeigt der Jungregisseur (und zugleich Hauptdarsteller) bei seinem Filmdebüt den düsteren Realismus und die scheinbare Hoffnungslosigkeit einer Kleinfamilie, die versucht, jeden Tag so gut über die Runden zu bringen, wie es eben geht. In kurzen Sequenzen geschickt eingebaut, erfährt das Kinopublikum im Rückblick, wie die zunehmend eskalierenden Situationen entstanden sind.
Die beeindruckende und zugleich bedrückende Mischung aus spannendem Thriller und ungeschminktem Sozialdrama in dem gar nicht so romantischen Island, wie es uns die Touristikbroschüren zeigen wollen, hat eine emotionale Wucht und zunehmende Spannung, die ihresgleichen sucht. Neben dem Hauptdarsteller ist der kleine Junge in seiner Darstellung zwischen Schüchternheit und Wutausbruch der beeindruckende Protagonist. Ein Film, nach dessen Abspann man erst mal tief Luft holen muss. Zwei Jungregisseure, deren Namen man sich merken sollte. (vs)
Deutschlandpremiere: Titane (Frankreich/Belgien, 2021)
Regie: Julia Ducournau
Story:
Alexia bekommt als Kind nach einem Autounfall eine Titanplatte in den Kopf, die sie zu beeinflussen scheint. Als junge Frau spürt sie eine körperliche Zuneigung zu Autos, die sie in ihrem ausschweifendem Leben unter dem Einfluss der Metallplatte in ihrem Kopf mehr und mehr auslebt und von ihr Besitz ergreift. Nach einer Reihe ungeklärter Verbrechen findet ein Vater seinen seit zehn Jahren vermissten Sohn wieder. Dabei handelt es sich bei ihm in Wirklichkeit um die Serienmörderin Alexia, die die Identität des Sohnes zum Schutz vor der Polizei annimmt und dafür ihr Aussehen radikal ändert.
Der Gewinner der Goldenen Palme von Cannes verstört von der ersten Minute an. Schrill, bunt, laut und äußerst brutal ist der zweite Spielfilm von Julia Ducournau eine Art Fantasy Drama in einem Rausch von Neon und Chrom. So spaltete und elektrisierte der Film als eine Art feministischer Horrorfilm nach seiner Premiere verständlicherweise auch in Frankreich Publikum und Kritiker in zwei Lager. Auch bei der Deutschlandpremiere in Oldenburg verließen einige Zuschauer*innen den Kinosaal.
Anmutend wie Quentin Tarantino auf einer Überdosis Kokain zieht er das Kinopublikum mit seiner zutiefst schonungslosen, brutalen und zugleich völlig überzogenen Darstellungen der Tötungsorgien der Hauptprotagonistin in den Bann oder stößt es ab. Die ungeschminkten Gewaltdarstellungen verlangen vom Publikum eine gehörige Portion Abgeklärtheit oder eben eine große Liebe für diese Art von Kino. Auch wenn sich der komplett grenzüberschreitende Blutrausch von Alexia, herausragend verkörpert von Agathe Rousselle in ihrem Kinodebüt, dermaßen überspitzt und surreal darstellt, ist die Gewalt nur schwer zu ertragen. Für die Liebhaber dieses Genres von Arthousekino ist „Titane“ sicherlich eine Offenbarung. (vs)
Weltpremiere: The Last Victim (USA, 2021)
Regie: Naveen A. Chathapuram
Story:
Irgendwo im tiefsten New Mexiko wird ein dort Urlaub machendes Pärchen zufällig Zeuge, wie eine Gruppe Krimineller in der Einöde einige Leichen verscharrt. Die beiden werden entdeckt und nur der Frau gelingt die Flucht. Sie irrt nun tagelang durch die Wildnis – ihre Verfolger immer im Nacken. Helfen kann ihr nur der ermittelnde Sheriff, der der Bande schon auf der Spur ist.
Regisseur Naveen A. Chathapuram ist zu Gast bei diesem Screening und erzählt vor Filmbeginn, dass er hier ganz bewusst eine Hommage an sein Lieblingsgenre schaffen wollte. Und so ist es auch ein klassischer Neo-Western geworden: Man hat den Bösewicht und man hat diesen in sich ruhenden Sheriff, der auch einfach mal dastehen und gucken darf, man hat diese langen, ruhigen Szenen, aber eben auch Action und Spannung. „The Last Victim“ hebt sich allerdings durch zwei Dinge besonders ab. Erstens – so viel sei schon mal verraten – gibt es einen überraschenden Twist. Zweitens: Die überlebende Touristin ist Anthropologin und so wird das Thema Menschenkunde auf geisteswisschaftlicher Ebene ganz wunderbar aufgegriffen. Hierbei kann vor allem Ali Larter als Susan brillieren, die schon in der Serie „Heroes“ zeigen konnte, wie gut sie Charaktere mit zwei gegensätzlichen Seiten verkörpern kann. Ebenfalls großartig besetzt: Ralph Ineson („The Witch“) als klassischer Villain und Ron Perlman („Sons of Anarchy“) als Sheriff – endlich durfte er mal wieder eine positiv besetzte Figur spielen. (ce)
Deutschlandpremiere: „Pig“ (USA, 2021)
Regie: Michael Sarnoski
Story:
Der Einsiedler Robin Feld lebt zurückgezogen in einem Wald außerhalb der Zivilisation. Die einzige Beziehung, die er dort hat, ist die zu seinem geliebten Trüffelschwein. Als sein Schwein eines Nachts von zwei Männern entführt wird, macht sich Robin zusammen mit seinem Zwischenhändler Amir auf den Weg zurück in die Stadt, mit dem einzigen Willen sein Schwein wiederzufinden. Die beiden ziemlich ungleichen Personen folgen den Spuren, die Robin Feld 15 Jahre zuvor als begabter Koch in der Stadt zurückgelassen hat.
„Pig“ ist ein wunderbarer, emotionaler Film, der am keiner Stelle langweilig ist. Zu Recht wird Cage’s Rolle, als seine beste Performance seit langem gelobt. (Paul Wieting)
Weltpremiere: Als Susan Sontag im Publikum saß (GER, 2021)
Regie: RP Kahl
Story:
Am 30. April 1971 ludt Schriftsteller Norman Mailer nach der Veröffentlichung seiner Streitschrift „The Prisoner of Sex“ vier Aktivistinnen zu einer Podiumsdiskussion unter dem Titel „A Dialogue on Women’s Liberation“ in die New Yorker Town Hall. Jede der eingeladenen Frauen durfte dabei ihre Meinung zum Thema Gleichberechtigung kundtun, wobei diese Meinungen überraschend vielseitig ausfielen. Auch aus dem Publikum folgten einige Diskussionsbeiträge, unter anderem auch von Schriftstellerin Susan Sontag.
RP Kahl hat hier eine außergewöhnliche Form der Dokumentation über ein historisches Ereignis geschaffen. Die Originaltexte wurden ins Deutsche übersetzt und werden hier nun von einer Reihe SchauspielerInnen (inkl. Kahl selbst als Norman Mailer) auf einer Theaterbühne in Berlin und im dazugehörenden Publikumsraum dargeboten. Besonders wird dieses Werk dabei durch seine drei Ebenen. Es gibt zum einen die Ebene der reinen Wiedergabe der originalen Diskussion. Unterbrochen wird diese durch Schwarz-Weiß-Sequenzen, die Szenen während des Drehs zeigen, in denen es in erster Linie um das gerade Vorgetragene geht oder um Übersetzungsfehler, die dann noch mal schnell angepasst werden. In der dritten Ebene kommen alle Darsteller hinter der Bühne zu Wort. Immer wieder sitzt man in kleinen Gruppen zusammen und diskutiert selbst über Gleichberechtigung und Feminismus. Ähnlich wie in der ursprünglichen Diskussion in New York geht es auch vielschichtig und tiefgründig zu. Man lernt unfassbar viel in diesen knapp 90 Minuten. Auch dass trotz unterschiedlicher Meinungen ein friedlicher Umgang miteinander möglich ist und man hinterher sogar noch zusammen was trinken gehen kann. (ce)
Weltpremiere Kurzfilm: Three Songs for Benazir (AFG, 2021)
Regie: Gulistan Mirzaei, Elizabeth Mirzaei
Story:
Der junge Shaista lebt mit seiner Familie und seiner schwangeren Frau Benazir in einem Lager in Kabul. Sie gehören alle zu den vom Taliban vertriebenen Menschen, die hier Schutz suchen. Shaista will aber noch einen Schritt weitergehen: Er möchte als Erster aus seiner Familie in die afghanische Armee eintreten.
„Three Songs for Benazir“ gewährt uns Einblicke in den Alltag der Menschen, die in einem Vertriebenenlager leben. Und das sehr exklusiv: Bisher wurde noch kein weiterer Film in einem solchen Lager in Afghanistan gedreht. Dem Filmemacher-Paar Gulistan und Elizabeth Mirzaei ist dies auf besonders intime und unaufdringliche Art gelungen. (ce)
Weltpremiere: The Pasha (USA, 2021)
Regie: Josie Maynard
Story:
Abdul Rashid Dostum war von 2014 bis 2020 der Vizepräsident Afghanistans. Bekannt wurde er jedoch als Milizenführer und Warlord, der unter anderem gemeinsam mit den USA gegen die Taliban vorging. Bis heute wird er dabei von Menschenrechtlern für seine harte Vorgehensweise kritisiert.
Josie Meinard widmet dieser umfangreichen Dokumentation 15 Jahre, in denen sie Schritt für Schritt das Vertrauen Dostums gewinnt. Einerseits brutaler Kriegsführer, andererseits für viele ein großer Held: Diese vielschichtige Persönlichkeit macht sich im Laufe seiner langen Karriere immer wieder Feinde zu Freunden und Freunde zu Feinden. Seine Motivation scheint dabei immer wieder schwer durchschaubar und wechselhaft zu sein. Wer ist diese schillernde Person, die jede Schuld an Massenhinrichtungen inhaftierter Taliban und Vergewaltigung als Foltermethode von sich weist? Es ist beeindruckend, was Meinard hier geschaffen hat: eine hochspannende Dokumentation, die einen zu packen weiß wie ein actionlastiger Kriegsfilm. Und durch die derzeitigen Entwicklungen – Abdul Rashid Dostum soll wieder gegen die Taliban aktiv werden – hochaktuell. (ce)
Weltpremiere: Foxhole, (USA, 2021)
Regie: Jack Fessenden
Story:
Der amerikanische Bürgerkrieg, der Erste Weltkrieg und der Krieg im Irak werden in „Foxhole“ in drei für sich stehende Episoden, jeweils auf fünf Schauspieler reduziert, gezeigt. Diese kleine Gruppe von US-amerikanischen Soldaten stellt sich auf engstem Raum den Fragen ihrer Moral, der Sinnlosigkeit ihres Tuns mit einer zunehmend unberechenbaren Kampfsituation konfrontiert. „Foxhole“ setzt dabei auf Dialoge und Einblicke in die Gefühlswelten der Soldaten über das Für und Wider ihres sinnloses Tun in der Ausnahmesituation Krieg.
Der erst 21-jährige Jack Fessenden, Sohn des berühmten Filmemachers Larry Fessenden, ist mit „Foxhole“ ein sehr beeindruckender und vor allem menschlicher Kriegsfilm aber vor allem ein Antikriegsfilm über die Sinnlosigkeit von Kriegen gelungen. Das schafft er in seinem Spielfilmdebüt, einem Kammerspiel ähnlich, nur mit den Dialogen der Soldaten und verzichtet dabei auf Gewaltdarstellungen und ausschweifende Kriegsszenarien. Auf engstem Raum und in nur drei Wochen gedreht, zeigt er das Seelenleben der Männer zwischen dem verzweifeltem Mut für ihr Land zu kämpfen, ihrer unmittelbaren Todesangst und der Diskussion was in einer derartigen Ausnahmesituation richtig und falsch ist. Sie schwanken zwischen Moral und Befehl. Die Kamera hält immer dicht drauf. In den ersten beiden Kriegen agieren die Schauspieler in Erdgruben und im Irak-Krieg spielt die Handlung in einem Jeep in Mitten der Wüste. In allen drei Szenarien agieren dieselben Schauspieler, was ihre Wandlungsfähigkeit fordert, die diese mit Bravour bewältigen. Jack Fessenden tritt mit diesem bewegenden Spielfilmdebüt in die Fußstapfen seines Vaters, die er mit ohne Abstriche ausfüllt. (vs)
Weltpremiere Kurzfilm: Wall #4 (NLD, 2021)
Regie: Lucas Camps
Story:
Wir sehen einen spärlich besetzten großen Kinosaal. Die Besucher sitzen locker über den Saal verteilt und schauen einen Film, der sie nicht so recht zu überzeugen scheint. Als ein erster genervter Kommentar laut ausgesprochen wird, fallen weitere Besucher ein und im Saal wird es lauter und lauter. Bis die Schauspielerin auf der Leinwand das Publikum anblafft, dass sie sich so nicht konzentrieren könne. Nach einem Moment allgemeiner Verwirrung wächst die Angst: Wo ist man da nur hineingeraten?
Regisseur Lucas Camps schafft es in nur acht Minuten, die Kinobesucher in ihren Sesseln zu fesseln. Man starrt völlig gebannt auf die Leinwand und kann nicht glauben, was dort passiert. Mir (ce) hätte in diesem Moment niemand auf die Schulter tippen dürfen. Ich hätte geschrien wie am Spieß! Grandiose Spannung und Unterhaltung in kompakter Form und völlig verdient der Gewinner des „German Independence Award – Bester Kurzfilm“ beim diesjährigen Filmfest. (ce)
Deutschlandpremiere: A Brixton Tale (UK, 2021)
Regie: Darragh Carey, Bertrand Desrochers
Story:
Die junge Leah betrachtet die Welt durch die Linse ihrer Videokamera. Für ihren neuen Dokumentarfilm trägt sie diese ständig mit sich, immer auf der Suche nach interessanten Situationen auf den Straßen Brixtons. Dabei lernt sie Benji kennen. Während Leah aus einem wohlhabenden Umfeld kommt, stammt Benji aus schlechteren sozialen Verhältnissen. Trotz dieser Unterschiede verlieben sich beide ineinander. Als Leah das Leben von Benji mit ihrer Kamera dokumentiert, sucht sie nach dramatischen Szenen und gelangt dadurch in immer gefährliche Situationen. Schließlich kommt der Zeitpunkt, an dem alles eskaliert.
Carey und Desrochers haben ein Filmdrama geschaffen, das mit seinen tiefgründigen Charakteren überzeugt. Aktuelle Themen werden aufgegriffen. Der Film zeigt, wie stark Medien uns beeinflussen können und wie gleiche Handlungen von unterschiedlichen Personen, unterschiedlich bewertet werden. (Paul Wieting)
Weltpremiere: The Maestro, (THA, 2021)
Regie: Paul Spurrier
Story:
Der begabte, aber in Europa gescheiterter Dirigent und Komponist Arun muss in sein Heimatland Thailand zurückkehren. Dort unterrichtet er missmutig ein Jugendsinfonieorchester. Als er den Auftrag bekommt ein großes Konzert zu dirigieren, willigt er unter der Bedingung ein, dort zusätzlich sein Lebenswerk uraufführen zu dürfen. Doch die Corona-Pandemie macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Im Lockdown kommt dem Verrückten Künstler eine Idee. Mit ausgewählten Kindern und Jugendlichen Musikern zieht er in ein altes, verlassenes Haus. Doch dort wird der scheinbare Traum für die Musiker schnell zu einem Albtraum.
The Maestro feierte seine Weltpremiere auf der Closing Night Gala im Staatstheater. Für die einzigartige Veranstaltung ist das halbe thailändische Jugendsinfonieorchester mit Dirigent und Hauptdarsteller Somtow Sucharitkul angereist. Zusammen mit dem Bremer Jugendsinfonieorchester gaben die Musiker vor der Preisverleihung und der Filmpremiere ein grandioses Konzert. Gespielt wurde unter anderem die Filmmusik von The Maestro, die von Sucharitkul eigens für den Film komponiert wurde.
Der Film von Spurrier und Sucharitkul balanciert gekonnt zwischen Horror und Humor. Er gibt zudem die Gefühle der Kunst- und Kulturschaffenden wieder, denen der Lockdown zur Hölle wurde. (Paul Wieting)
Deutschlandpremiere: Alien on Stage (GBR, 2021)
Regie: Danielle Kummer, Lucy Harvey
Story:
Eine Gruppe von Busfahrern aus Dorset versucht sich immer mal wieder als Laienschauspieler. Ihre letzte gemeinsame Inszenierung, eine „Robin Hood“ –Adaption, war ein voller Erfolg. Diesmal soll es aber etwas Ernstes sein: der SciFi-Horror-Klassiker „Alien“. Doch die Show floppt im heimischen Dorfsaal – trotz der wirklich aufwendigen Inszenierung. Zwei Filmemacherinnen aus London, die zufällig im Publikum sitzen, wittern aber das große Potenzial und holen die Truppe ins Leicester Square Theatre ins Londoner Westend.
Was sich anhört wie eine Story aus Hollywood, ist aber Realität, denn „Alien on Stage“ ist eine Dokumentation. Sie zeigt die Proben und Vorbereitungen der busfahrenden Schauspielgruppe in Dorset und schließlich den Weg nach London inklusive der dortigen Premiere vor ausverkauftem Haus mit anschließender Feier. Es ist schier der Wahnsinn, was diese Truppe da auf die Beine gestellt hat. Man fiebert die ganze Zeit mit, man lacht aus vollem Herzen – man feiert einfach jede Sekunde des großen Premierenabends in London. Ganz, ganz großes Dokumentationskino! Und man möchte am liebsten sofort nach England düsen, in der Hoffnung, diese „Alien“-Inszenierung und diese tollen Menschen einmal live erleben zu können. Einziger Nachteil: Vielleicht wird man den Film „Alien“ danach nie wieder mit dem nötigen Ernst sehen können, aber damit kann zumindest ich (als großer Fan des Films) sehr gut leben. (ce)
Tatort: „Borowski und der gute Mensch“ (DE, 2021)
Regie: Ilker Çatak
Story:
Kai Korthals ist zurück! Bereits zum dritten Mal fordert der freundliche Soziopath den Kieler Kommissar Klaus Borowski (Axel Milberg) zum Duell. Mehr dazu im Artikel. (Achim Neubauer)
Weltpremiere: Tatort „Tyrannenmord“ (DE, 2022)
Regie: Christoph Stark
Story:
Das Weserbergland bildet den Einsatzort für die Bundespolizisten Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) und Julia Grosz (Franziska Weisz). Als die beiden in Hannover dabei sind, den Staatsbesuch eines umstrittenen Machthabers vorzubereiten, verschwindet der Sohn des Botschafters aus ebendiesem Land aus dem Eliteinternat „Rosenhag“. Kommissar Falke muss nun – unterstützt vom örtlichen Oberkommissar Felix Wacher (Arash Marandi) – in den Kreisen von versnobten Schülern ermitteln. Mehr dazu im Artikel. (Achim Neubauer)
Closing Night
Das 28. Internationale Filmfest Oldenburg endete am Sonntag traditionell mit der Closing Night Gala im Oldenburgischen Staatstheater. Mehr dazu im Artikel. (vs)