Seit Wochen stehen die Flüchtlinge im Fokus der Medien. Während die Kanzlerin die Parole „Wir schaffen das“ ausgegeben hat, erklärt Horst Seehofer, ihr Widersacher aus Bayern, unermüdlich das Gegenteil. Viele Bürger praktizieren Willkommenskultur, andere fürchten sich vor Überfremdung und sprechen gar von der Islamisierung des Abendlandes. Schreckensszenarien geistern durch die Köpfe bis hin zu rechtsradikalen Äußerungen. Das alles gipfelte in eine Messerattacke auf die Kölner OB-Kandidatin Henriette Reker, die auf offener Straße niedergestochen wurde. Der Attentäter soll fremdenfeindliche Motive gehabt haben.

Eine Million Flüchtlinge, so meinen viele, seien nicht verkraftbar für Deutschland. Warum, sagen sie nicht. Andere befürchten weitere Flüchtlingsströme und sehen Deutschland bereits im Chaos versinken. Fakt ist, dass wir in einem demokratischen, reichen und gut entwickelten Land leben, in dem seit 70 Jahren Frieden herrscht. Das hat sich in unserer medialen Welt herumgesprochen. Und weil sich niemand – weder Europa noch die USA oder Russland – wirklich für den Syrienkrieg interessiert hat, erleben wir gegenwärtig die Folgen dieser Ignoranz. Die Menschen flüchten vor diesem Krieg und suchen Schutz. Sie tun genau das, was Millionen von Menschen tun, seit es Kriege und Unterdrückung gibt, und was auch wir in ihrer Lage täten.

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Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen die aus den Ostgebieten Vertriebenen zu Tausenden nach Deutschland. Allein Oldenburg nahm rund 40.000 von ihnen auf, und 1950 zählte die Stadt bereits 120.000 Einwohner. Sie alle haben sich längst integriert und ihren Beitrag zur heutigen Entwicklung geleistet. Der Zusammenbruch Jugoslawiens löste die nächste Flüchtlingswelle aus, und ab Mitte der 1980er Jahre kamen die Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion und suchten unter anderem in Südoldenburg ihren Frieden. All das hat die deutsche Gesellschaft problemlos verkraftet und am Ende sogar davon profitiert.

Warum also ist die Furcht so groß vor den Flüchtlingen? Ist es die Angst vor den Menschen, die wir nicht kennen, oder bangen wir um unseren Wohlstand? Wer um seinen Wohlstand bangt, der muss lernen abzugeben. Wer sich vor den Fremden fürchtet, der sei daran erinnert, dass derzeit in Oldenburg Menschen aus 145 unterschiedlichen Staaten leben, was den meisten von uns vermutlich nicht bewusst ist, weil sie unauffällig sind. Sie leben friedlich in unserer Stadt, gehen einer Arbeit nach, zahlen Steuern und haben deutsche Freunde.

Genauso wird es sich mit den syrischen Flüchtlingen verhalten, die in unserer Stadt oder anderen Städten und Dörfern angekommen sind. Die meisten von ihnen wollen möglichst schnell ein normales Leben führen, die Sprache lernen, einen Beruf ausüben und finanziell unabhängig vom Staat ihr eigenes Leben leben.

Dass sie die hier geltenden Gesetze einzuhalten haben, versteht sich von selbst. Dazu gehören eine klare Trennung von Staat und Religion, die Gleichstellung von Frau und Mann und auch die sexuelle Ausrichtung bleibt hier zum Glück jedem selbst überlassen. All das sollte den Flüchtlingen so schnell wie möglich mitgeteilt und vermittelt werden, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. Denn genau daran könnte sich ein Konflikt entzünden.

Multikulti hat damit nichts zu tun. Vielmehr hat der Begriff oft für Irritationen gesorgt genau wie falsch verstandene Toleranz. Unser Grundgesetz gilt und ist keine Frage der Toleranz. Genau diesen Aspekt sollte Politiker auf allen Ebenen viel stärker in den Vordergrund stellen, damit unnötige Ängste gar nicht erst aufkommen, so wie es zurzeit der Fall ist.

Europa ist ein Einwanderungskontinent. Da helfen auch keine Zäune oder Symbolpolitik wie Transitzonen oder die Drohung mit der Islamisierung des Abendlandes. Je eher wir das begreifen, umso besser gelingt uns die Integration der Flüchtlinge. Dies setzt jedoch eine Menge Bereitschaft und Willen der hiesigen Bevölkerung voraus. Genau darauf sollten sich alle Akteure konzentrieren und nicht täglich mit neuen Flüchtlingszahlen Angst schüren. Wir befinden uns mitten in einer neuen Situation, die es gilt zu meistern. Wir können das Rad nicht zurückdrehen, weshalb Europa und damit auch Deutschland nicht so bleibt wie es war. Aber das muss ja nicht zwangsläufig schlecht sein.

Vielmehr sollten wir unsere unverzichtbaren Werte konsequent gegenüber allen verteidigen. Jene, die Zäune bauen, haben dagegen ein Europa mit seiner politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Anziehungskraft längst aufgegeben. Unsere Aufgabe ist es, den Flüchtlingen unseren demokratischen Geist zu vermitteln, sie anzustecken und mitzunehmen auf dem Weg zu einem anderen, aber keineswegs schlechteren Europa. Das bedeutet Integration.

Ein Kommentar von Katrin Zempel-Bley.

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3 Kommentare

  1. Karl
    12. November 2015 um 9.56 — Antworten

    Sehr geehrte Frau Zempel-Bley,

    nichts liegt mir ferner als Ihnen unterstellen zu wollen, daß Sie vor der Inbetriebnahme ihrer Tastatur berauschende Substanzen zu sich nehmen. Diesen Kommentar kann ich aber nicht unkommentiert stehen lassen.

    Allein die Kausalitätskette rechtsradikale Äußerungen … gipfelte in eine Messerattacke … soll fremdenfeindliche Motive gehabt haben finde ich ein wenig befremdlich, obwohl diese m. E. durchaus im Bereich des Möglichen liegt. Auch werden Sie mir sicher zustimmen wenn ich sage, daß die letzten Jahre der Regierung Merkel eine ununterbrochene Folge von Vertrags- und Rechtsbrüchen waren. Lesen Sie dazu einfach den Artikel 16 GG.

    >Eine Million Flüchtlinge, so meinen viele, seien nicht verkraftbar für Deutschland.
    Wer entscheidet denn darüber, ob sie verkraftbar sind oder nicht? Der Souverän, das Volk, wurde dazu nicht gefragt. Dessen Einverständnis wurde stillschweigend vorausgesetzt.

    >Fakt ist, dass wir in einem demokratischen, reichen und gut entwickelten Land leben, …
    … mit 300.000 in der Regel autochthonen Wohnungslosen (davon 30.000 Kinder) sowie 2,65 Mio. offiziell zugegebenen Erwerbslosen, die im Alter zum großen Teil eine Minirente auf Hartz IV-Niveau erhalten werden.

    >Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen die aus den Ostgebieten Vertriebenen zu Tausenden nach Deutschland.
    Das ist in meinen Augen Geschichtsklitterung der übelsten Provenienz, auch wenn Sie ehrlicherweise von Vertriebenen statt von Flüchtlingen sprechen.

    >Wer sich vor den Fremden fürchtet, der sei daran erinnert, …
    Es wäre informativer gewesen, hätten Sie die ethnische Herkunft der Menschen ein wenig aufgedröselt. Wie viel Prozent stellen die drei größten Gruppen und wie viele
    davon sind Angehörige der Religion des Friedens?

    >Genauso wird es sich mit den syrischen Flüchtlingen verhalten, …
    Setzen Sie hier die Entscheidungen des BAMF auf ein dauerndes Aufenthaltsrecht voraus? Dann hätte diese Behörde nicht Hunderte neuer Mitarbeiter einstellen müssen, sondern sollte aus Kostengründen schnellstmöglich aufgelöst werden.

    >Da helfen auch keine Zäune oder Symbolpolitik wie Transitzonen …
    In Ceuta und Melilla beweist Spanien täglich das Gegenteil und auch Ungarn setzt dieses Mittel erfolgreich ein.

    >Vielmehr sollten wir unsere unverzichtbaren Werte konsequent gegenüber allen verteidigen.
    Da stimme ich Ihnen ohne Wenn und Aber zu.

    Für die Sozialdemokraten unter den Leserinnen und Lesern der OOZ habe ich noch auf zwei Beiträge verlinkt:

    http://www.mmnews.de/index.php/politik/57945-helmut-schmidts-unbequeme-zitate

    http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2004/06/20040622_Rede.html

    Bei Letzterem weise ich insbesondere auf den Absatz V hin.

    Freundliche Grüße

    Karl

    • Barbara Klebinger
      16. November 2015 um 0.53 — Antworten

      … DANKE – mehr Worte sind nicht erforderlich !

  2. Inka Ibendahl
    12. November 2015 um 22.53 — Antworten

    Liebe Frau Zempel-Bley,
    haben Sie vielen Dank für Ihren Artikel; er spricht mir aus dem Herzen. Ich habe ihn bei Facebook geteilt und dadurch sehr viele Leute erreicht. Die Reaktion ist ausnahmslos positiv.
    Grüße sendet Inka Ibendahl

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