Roth erwartet „eine Art Entzug“ nach Ausscheiden aus dem Bundestag

Berufspolitiker laufen nach Ansicht des SPD-Bundestagsabgeordneten Michael Roth in besonderer Weise Gefahr, psychisch zu erkranken oder süchtig zu werden. „Das wird eine Art Entzug“, sagte Roth dem „Tagesspiegel“ (Freitagausgabe) kurz vor seinem Ausscheiden nach 27 Jahren im Deutschen Bundestag.
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Er selbst versuche nun, sich von dieser Sucht zu befreien, sagte der ehemalige Staatsminister im Auswärtigen Amt, der seine eigene psychische Erkrankung im Jahr 2022 als einer von wenigen Berufspolitikern öffentlich gemacht hatte. „Politik kann krank machen, wenn man sich zum Spielball der politischen Mächte und der Medien macht. Wenn man sich nicht mehr die Zeit zum Nachdenken, zur Reflexion nimmt“, erläuterte Roth. „Wenn Politik zu einer Ausrede wird, um den wichtigen Dingen des Lebens auszuweichen.“
Es sei kein gutes Zeichen, wenn junge Kollegen stolz auf Instagram über ihre 100-Stunden-Woche posteten oder die 17 Termine am Wochenende, sagte er. „Politik und sonst nichts – das tut nicht gut.“
Roth führte das Suchtpotenzial seines bisherigen Berufsstands auf den starken Wunsch nach Aufmerksamkeit zurück. Sie sei das „Lebenselixier des Politikers“. Anerkennung von außen diene oftmals dazu, die eigene Unsicherheit zu kompensieren. „Aufmerksamkeit, Wertschätzung, aber auch Kritik, teilweise massive Kritik – das macht Politik so berauschend. Dadurch spürt man, dass man lebt.“
Viele Kollegen warteten auf Anrufe von Journalisten und würden es genießen, wenn der Parteivorsitzende anrufe. „Und sei es, wenn er anruft, um sie in den Senkel zu stellen. Denn das bedeutet: Man wird wahrgenommen, man wird ernst genommen“, so Roth.
Er selbst habe wegen seiner Erkrankung erst lernen müssen, „auch ohne den Applaus anderer ein glücklicher Mensch zu sein“. Dies sei sehr schwer für ihn gewesen, sagte der SPD-Politiker. „Einfach mal eine Stunde aufs Meer schauen oder auf eine Berglandschaft, eine Stunde Rad fahren, wandern, ohne ständig aufs Handy zu blicken – das war für mich Schwerstarbeit. Vor zwei Jahren hätte ich das nicht gekonnt“, sagte Roth. „Ich musste immer überall dabei sein, am besten noch parallel etwas twittern, dafür Beifall bekommen, mich daran laben.“
Mit Blick auf sein Eintreten für eine stärkere militärische Unterstützung der Ukraine sei er vielen auf die Nerven gegangen, sagte Roth. „Es gibt aber Situationen im Leben, da muss man sich entscheiden, notfalls auch gegen die anfängliche Mehrheitsmeinung in der eigenen Partei.“
In den Gremien der SPD sei es deshalb „manchmal so kalt wie in einem Kühlschrank“ gewesen. „Da hätte ich mir mehr Entspanntheit und weniger Schärfe gegenüber anderen Meinungen gewünscht“, sagte der Außenpolitiker. „Und ich habe mir im übertragenen Sinne keine Winterjacke und dicke Stiefel zugelegt. Ich stand da im dünnen Hemd und kurzen Hosen. Mein Fehler“, so Roth. „Ich wurde krank an der Seele und musste mich fünf Monate lang aus der Politik zurückziehen.“
Der Abgeordnete kündigte einen harten Schlussstrich unter seine 27 Jahre im Parlament an. „Ich will den Bundestag nach Ende März nicht wieder betreten. Schluss heißt Schluss.“ Es sei „ein beglückendes Gefühl, dass mich niemand gezwungen hat, zu gehen. Ich wollte selbstbestimmt gehen“, sagte Roth. Er habe zu viele Politiker erlebt, „die den richtigen Zeitpunkt verpasst haben“.
dts Nachrichtenagentur
Foto: Michael Roth (Archiv), via dts Nachrichtenagentur
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