Sandra Kossendey: Pink, schrill und ungehalten

Die „Pink Lady“ Sandra Kossendey will mit einer TV-Sendung Menschen eine Stimme geben, die sonst nicht gehört werden.
Foto: Pascal Klug
Oldenburg / Kassel (pk) Sandra Kossendey ist Oldenburgs „Pink Lady“. Die gebürtige Hannoveranerin wohnt seit einigen Jahren in Oldenburg und setzte sich politisch und über eine eigene TV-Sendung im Lokalfernsehen dafür ein, Menschen eine Stimme zu geben, um gehört zu werden. Durch ihr auffälliges Outfit und die pinken Haare ist sie mittlerweile zu einer bekannten Erscheinung in der Huntestadt geworden.
Anzeige
Im Dezember wurde sie ins Kasseler Rathaus eingeladen, um vor 250 Gästen und Vertreterinnen und Vertretern aus Kultur und Politik eine „ungehaltene Rede“ zu halten. Im Zuge der Veranstaltung „Neue ungehaltene Reden ungehaltener Frauen“ haben die sechs eingeladenen Rednerinnen mit einem individuellen Thema in einer ganz persönlichen Rede ausgesprochen, was sie „ungehalten“ macht. Sie sind die Preisträgerinnen der diesjährigen Veranstaltung und setzten sich so öffentlich zur Wehr gegen Demütigung, Gewalt und Stigmatisierung.
Die Redaktion der Oldenburger Onlinezeitung (OOZ) hat Sandra Kossendey zum Interview im Redaktionsbüro getroffen.
OOZ: Frau Kossendey, Sie sind als Oldenburgerin ins Kasseler Rathaus eingeladen worden, um dort eine Rede zu halten. Wie ist es dazu gekommen?
Kossendey: Ich habe in einer Instagram-Story eine Werbeanzeige gefunden, die dazu aufgerufen hatte, dass sich Frauen mit einer sehr persönlichen Geschichte bewerben können, die ihnen widerfahren ist oder die sie berührt und eben „ungehalten“ macht. Und da ich wirklich eine sehr krasse Geschichte zu erzählen hatte, habe ich sie aufgeschrieben und dann vor der Handykamera vorgetragen und das Video dann als Bewerbungsvideo eingeschickt. Ich habe aber nicht gedacht, dass ich es wirklich schaffe, eingeladen zu werden. In den Vorjahren hatten sich nämlich über 100 Frauen beworben. Doch als ich die Mail mit der Einladung bekam, war ich total aus dem Häuschen und habe mich sehr geehrt gefühlt.
OOZ: Was für eine Geschichte hatten Sie denn zu erzählen, die so begeistert hat?
Kossendey: Bei der Veranstaltung haben die Rednerinnen sehr heftige Schicksalsschläge erlebt oder sind mit einem Handycap geboren worden, mit dem sie sich durch den Alltag kämpfen müssen. Eine Mitrednerin hatte zum Beispiel eine Gesichtslähmung und hat in ihrer Rede davon berichtet. Von Mobbing, Ausgrenzung und Intoleranz. Dies hat sie ungehalten gemacht. Meine Geschichte hat mein komplettes Leben beeinflusst und man kann sagen auch meine Kindheit zerstört. Ich bin in einer Arbeiterfamilie groß geworden und mein Vater war stark alkoholabhängig. Er hat wegen seiner Sucht auch oft die Arbeitsstelle gewechselt und so wurde meine Mutter quasi zur Alleinerzieherin. Und aufgrund dieser Situation hat sie dann auch ihren Frust mit körperlicher Gewalt an mir rausgelassen. Das war wirklich extrem schlimm. Ich wurde komplett meiner Kindheit beraubt, denn ich musste immer mit anpacken und mich um meinen Vater und die Familie kümmern.
OOZ: Was genau hat Sie daran so ungehalten gemacht?
Kossendey: Ich habe es wegen der Alkoholsucht meines Vaters nie geschafft, meinen Talenten und auch meiner Bildung nachzugehen. Ich habe erst einen Hauptschulabschluss gemacht, später dann noch einen Realschulabschluss, aber diese Stigmatisierung in der Gesellschaft, dass man ohne Abitur oder Studium nichts wert ist, die hat mich ungehalten gemacht. Ebenso aber auch die Tatsache, dass Kinder aus Familien eines alkoholkranken Elternteils meist nicht gehört werden und so keine richtige Kindheit erfahren können. Das führt dann dazu, dass sie es kaum schaffen, aus diesem gesellschaftlichen Teufelskreislauf auszubrechen.
OOZ: Erinnern Sie sich an ein prägendes Ereignis?
Kossendey: Ja selbstverständlich! Eines meiner schlimmsten Erlebnisse war, und darüber berichte ich eben auch in der Rede, dass ich mit sechs Jahren meinen völlig alkoholisierten Vater nachts um halb eins aus einer Kneipe abholen musste. Zwar war meine Mutter dabei, aber das war wirkliche keine Hilfe, im Gegenteil: Als ich die Kneipe betrat, hatte ich einfach nur Angst und bin wieder rausgelaufen. Meine Mutter kam dann hinterher und hat nur gesagt „reiß dich zusammen, du gehst da wieder rein“ und hat mir mehrere Backpfeifen gegeben.
OOZ: Wie sind Sie aus der Lebenssituation damals ausgebrochen?
Kossendey: Zu dem Zeitpunkt war ich 18 Jahre alt. Ich weiß noch genau, dass meine Mutter an diesem Tag wieder Schläge angedroht hatte, aber diesmal habe ich es nicht mehr mit mir machen lassen. Das war ein richtiges Schlüsselerlebnis für mein Leben. Ich habe dann einfach zurückgeschlagen und sie angeschrien „Fass mich nie wieder an!“. Dann bin ich so wie ich war zur Arbeit gefahren. Abends hatte ich dann schon eine Übergangswohnung organisiert. Dort sah es aus wie im letzten Loch. Ich hatte auch keine Möbel oder Klamotten, nur das, was ich bei mir hatte. Aber ich habe mich das erste Mal in meinem Leben einfach frei gefühlt.
OOZ: Wie waren die Reaktionen nach Ihrer Rede im Rathaussaal?
Kossendey: Es war unbeschreiblich. Die Leute haben gefühlt zehn Minuten lang geklatscht und es gab am Ende auch Standing Ovations. Hinterher fand dann noch ein Sektempfang statt und ich hatte wirklich große Angst vor der Reaktion einzelner Personen – ich hatte mich ja emotional völlig entblößt. Doch es kamen so viele Menschen auf mich zu und waren einfach dankbar. Viele haben mir gesagt, dass sie es extrem mutig finden, über dieses Thema zu sprechen und dass ich für sie wirklich in dem Moment zum Vorbild geworden bin, weil sie selbst als Kind eines alkoholkranken Elternteils aufgewachsen sind. Eine Frau kam sogar zu mir und meinte, dass ich meine Geschichte als Buch veröffentlichen soll, um so anderen Mut zu machen. Das hat mich sehr berührt.

Im Kasseler Rathaus wurden sechs Frauen mit ihren „ungehaltenen“ Reden ausgezeichnet.
Foto: Dieter Schachtschneider
OOZ: Haben Sie das denn auch vor?
Kossendey: Nach diesem tollen Feedback, auf jeden Fall! Ich weiß zwar noch nicht genau, wie ich das neben meinem Beruf zeitlich machen soll, aber das wäre mir schon eine Herzensangelegenheit.
OOZ: Was machen Sie denn momentan beruflich und wurde der Beruf auch ausgewählt, um anderen Menschen in einer ähnlichen Situation zu helfen?
Kossendey: Also ausgebildet worden bin ich als Medizinische Fachangestellte und habe damals lange in einer Hausarztpraxis gearbeitet. Dann habe ich viele Jahre auch Messen für Frauen organisiert – da kommen übrigens auch meine pinken Haare und mein schrilles Outfit her. Ich musste ja auffallen, damit die Frauen auch einen Messestand buchen wollten. Mittlerweile arbeite ich in der Karl-Jaspers-Klinik in Wehnen wieder als Medizinische Fachangestellte in der Patientenaufnahme. Und natürlich findet man durch die eigene Geschichte auch schneller einen Zugang zu den Patient/innen. Ich finde es einfach schön, Leuten zu helfen, gerade weil ich diese Hilfe damals nicht hatte.
OOZ: Neben Ihrem Beruf haben Sie auch noch eine eigene TV-Sendung „Frau im Talk“ bei Oldenburg Eins. Wie ist es dazu gekommen?
Kossendey: Frau im Talk ist aus der Idee entstanden, Frauen eine Stimme zu geben. Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der Frauen wenig zu sagen hatten und das hat mich immer gestört. Gerade wegen der Geschichte meines Vaters habe ich Ungerechtigkeiten nie ertragen können und immer dafür gesorgt, dass auch andere Leute Mut finden, um Dinge auszusprechen. Auch heutzutage gibt es noch viele Themen, die sich vor allem Frauen nicht trauen publik zu machen. So etwas wie Menstruation oder Sexualität der Frau über 50, das sind Dinge, die in unserer Gesellschaft kaum Beachtung finden. Und genau das möchte ich mit meinen Studiogästen ändern.
OOZ: Mittlerweile sind Sie selbst auch Mutter. Was für Werte geben Sie Ihren Kindern mit auf den Weg?
Kossendey: Ich habe mir fest vorgenommen, die „Kette der Gewalt“ zu durchbrechen. Oft ist es ja so, dass Kinder, die Gewalt erfahren haben, auch ihren Kindern gegenüber gewalttätig sind. Das wäre für mich niemals infrage gekommen. Mein Sohn ist jetzt 20 und meine Tochter zwölf. Bei uns sagt man sich „Ich habe dich lieb!“ und „Toll, was du machst!“. Wir geben uns alle sehr viel Liebe und haben Respekt voreinander. Ich wollte meinen Kindern unbedingt eine bessere Kindheit ermöglichen als ich sie damals hatte.
OOZ: In einem Satz zusammengefasst: Was wünschen Sie sich, dass Sie mit Ihrer Rede in Kassel bewirken konnten und was wünschen Sie sich persönlich für die Zukunft?
Kossendey: In Bezug auf die Rede wünsche ich mir, dass sich Menschen aus Familien mit alkoholkranken Elternteilen outen und aufhören sich dafür zu schämen – ebenso aber auch alle Menschen, die keinen hohen Bildungsabschluss haben. Für mich persönlich wünsche ich mir, dass ich so bleibe wie ich bin: Immer meinen Mund aufmache, wenn es Ungerechtigkeiten gibt und dass ich mir meine Fröhlichkeit und Lebensfreude niemals nehmen lasse – und natürlich, dass wir gesund bleiben.
OOZ: Vielen Dank für diese emotionalen Einblicke und alles Gute für die Zukunft.
Kossendey: Ich danke Ihnen für die Zeit und das Gespräch.
Über 6 Millionen Kinder in Deutschland betroffen
Laut bundesweiten Beratungsinstitutionen, wachsen etwa 2,65 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland mit einem alkoholabhängigen Elternteil auf. Die Zahl erhöht sich sogar noch auf 6,6 Millionen, wenn man Elternteile dazuzählt, die riskanten Alkoholkonsum oder regelmäßiges Rauschtrinken ausführen.
Hilfe auch in Oldenburg
Beratungsangebote für betroffene Kinder und Jugendliche oder Menschen, die diesen helfen möchten, gibt es auch in Oldenburg:
Kinderschutz-Zentrum Oldenburg
Friederikenstraße 3
26135 Oldenburg
Telefon: 0441 17788
E-Mail: info@kinderschutz-ol.de
Website: www.kinderschutz-ol.de
Diakonisches Werk Oldenburg Suchthilfe gGmbH
Fachdienst Sucht in der Stadt Oldenburg
Ofener Straße 20
26121 Oldenburg
Telefon: 0441 36155960
E-Mail: fs-sucht-ol@diakonie-ol.de
Website: www.suchtberatung-oldenburg.de
Rose 12 Oldenburg
Fachstelle für Sucht und Suchtprävention
Alexanderstraße 17
26121 Oldenburg
Telefon: 0441 83500
E-Mail: oldenburg@step-niedersachsen.de
Website: www.step-niedersachsen.de
Keine Kommentare bisher