Oldenburg

Streetwork: Leben und arbeiten auf der Straße

Die drei Streetworker sind gut sichtbar mit ihren Lastenrädern in der Oldenburger Innenstadt unterwegs. Sie versuchen, einen niedrigschwelligen Zugang zu wohnunglosen, süchtigen und bedürftigen Menschen zu finden. V.l.: Derk Stürenburg, Marcus Zechelius und Mechthild Bünker.

Die drei Streetworker sind gut sichtbar mit ihren Lastenrädern in der Oldenburger Innenstadt unterwegs. Sie versuchen, einen niedrigschwelligen Zugang zu wohnunglosen, süchtigen und bedürftigen Menschen zu finden. V.l.: Derk Stürenburg, Marcus Zechelius und Mechthild Bünker.
Foto: Pascal Klug

Oldenburg (Pascal Klug) Ein abgelegener Ort, überall liegt Müll. Die eisige Winterkälte bildet Reif an den Büschen. Neben einer mit Graffiti besprühten Wand, ein altes Zelt. Darin befinden sich zwei nasse Schlafsäcke. Die Feuerstelle ist noch frisch. Hier leben tatsächlich Menschen. Die Vögel zwitschern, als wäre alles in Ordnung, doch das ist es nicht – ganz bestimmt nicht. Unser Reporter Pascal Klug hat zwei Streetworker und eine Krankenschwester der Diakonie Oldenburg einen Tag lang begleitet. Die Straße ist ihr Beruf.

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Mittwochmorgen kurz vor 10 Uhr. Obwohl der Winter gefühlt schon vorbei war, ist es in den letzten Tagen noch einmal richtig kalt geworden. Die App auf meinem Handy zeigt die aktuelle Temperatur: minus 1 Grad. Allein die Tatsache, dass ich ein Handy besitze und die Möglichkeit habe, auf die App zu schauen, macht mir bewusst, dass ich in dieser Gesellschaft Glück habe. Glück ein Dach über dem Kopf zu haben, Glück mir Essen und Kleidung kaufen zu können. Glück, das einige Menschen in unserer Stadt nicht haben.

Mit einer langen Unterhose, drei übereinander gezogenen Paar Socken und Handschuhen bewaffnet, mache ich mich mit dem Fahrrad auf den Weg zum Tagesaufenthalt für Wohnungslose der Diakonie in der Cloppenburger Straße. Der Wind pfeift mir durchs Gesicht. Schon jetzt merke ich die bittere Kälte und bin erst seit zwei Minuten unterwegs. Auf dem Weg mache ich mir viele Gedanken, was mich wohl erwartet. Sehe ich Armut und Leid? Sehe ich Schicksale, die ich in meinem Alltag vielleicht sehe, diese aber bewusst ausblende, um mich nicht allzu schlecht zu fühlen? „Gott sei Dank habe ich es ja besser!“ und schon bin ich abgelenkt durch meine Umgebung, die Arbeit, die sozialen Medien. Ich blende diese Schicksale einfach aus, als würden sie nicht existieren. Heute geht das nicht.

Angekommen im Tagesaufenthalt für Wohnungslose der Diakonie in der Cloppenburger Straße, treffe ich auf die beiden Streetworker Marcus Zechelius und Derk Stürenburg. Hier gibt es alkoholfreie Getränke, Mahlzeiten und die Gelegenheit, zu duschen und Wäsche zu waschen. Noch ist die Einrichtung menschenleer. Überrascht bin ich, wie modern und freundlich alles aussieht. Helle Farben, keine üblen Gerüche. Alles sieht ganz „normal“ aus. In Oldenburg gibt es zwei Tagesaufenthalte der Diakonie: einen in der Cloppenburger Straße und einen in der Bloherfelder Straße. Der Standort an der Cloppenburger Straße wurde erst im April 2022 eröffnet. Mechthild Bünker ist die examinierte Krankenschwester in der Runde und immer mittwochs mit den beiden Straßensozialarbeitern unterwegs. Es wird viel gelacht und ab und zu fliegen auch mal ein paar ironische Sprüche durch die Luft. Man spürt, wie sehr sich die drei schätzen und dass sie ein echtes Team sind.

Mechthild Bünker ist examinierte Krankenschwester. Sie ist immer mittwochs mit den beiden Straßensozialarbeitern unterwegs. Hier zeigt sie ihren medizinischen Vorrat im Tagesaufenthalt in der Cloppenburger Straße.

Mechthild Bünker ist examinierte Krankenschwester. Sie ist immer mittwochs mit den beiden Straßensozialarbeitern unterwegs. Hier zeigt sie ihren medizinischen Vorrat im Tagesaufenthalt in der Cloppenburger Straße.
Foto: Pascal Klug

Viertel vor 10: Team-Meeting. Es wird besprochen, was heute anliegt. Kein Tag ist gleich. Wochentags gehen Derk Stürenburg und Marcus Zechelius zu zweit auf die Straße. Heute sind sie zu dritt. Plötzlich kommt eine Frau auf uns zu und wirft Derk Stürenburg einen fiesen Spruch an den Kopf. Zuerst bin ich irritiert, doch dann beginnen beide zu lachen. Es ist eine Besucherin, die sie schon lange kennen. Denn in der Zwischenzeit wurde der Tagesaufenthalt geöffnet. Die Besucherin und andere Bedürftige haben hier die Möglichkeit, sich aufzuwärmen, zum Teil ihre hier gemeldete Post abzuholen, sich zu unterhalten und kostengünstig zu frühstücken. Wertmarken für ein kostenloses Mittagessen werden verteilt. Schnell füllt sich der Aufenthaltsraum mit Besuchern. Die Frau setzt sich an einen Tisch und liest Zeitung. Der Geruch von Alkohol macht sich im Raum breit und so langsam beginne ich zu begreifen, dass ich nun mittendrin bin im Alltag der Streetworker.

 Die Streetworker im Gespräch mit einer Besucherin im Tagesaufenthalt für Wohnungslose in der Cloppenburger Straße.

Die Streetworker im Gespräch mit einer Besucherin im Tagesaufenthalt für Wohnungslose in der Cloppenburger Straße.
Foto: Pascal Klug

Kurz bevor wir mit dem Fahrrad aufbrechen, gibt es eine positive Nachricht zu verkünden: Eine stark drogenabhängige Frau, die die drei schon seit vielen Jahren begleiten, hatte sich vor einiger Zeit bereiterklärt, einen Entzug zu beginnen. Dieser Entzug ist nun erfolgreich abgeschlossen und heute kommt sie endlich in eine weiterführende Therapieeinrichtung. Große Freude macht sich breit. „Das sind eben diese Erfolgserlebnisse, die auch zum Beruf gehören und einen immer wieder antreiben.“, erklärt mir Marcus Zechelius.

Viertel vor 11: Aufbruch zu unserer ersten „Platte“. So nennen die Streetworker die Orte, an denen wohnungslose Menschen leben. Mal allein, mal in Gruppen, um auch für gegenseitigen Schutz zu sorgen. Auf dem Weg kommt uns eine junge Frau entgegen. In ihrer Hand hat sie einige leere Dosen. Wir halten kurz an und die Streetworker geben ihr während eines kurzen Smalltalks einen Essensgutschein für den Tagesaufenthalt. Sie scheinen sich zu kennen. Wir fahren weiter Richtung Stadtgrenze. In einem abgelegenen Gebiet, auf das ich beim Vorbeifahren niemals aufmerksam geworden wäre, biegen wir auf ein Gelände ab, das zwar befahrbar ist, das man aber ohne wirklichen Grund wohl eher nicht betreten würde. Hier sehen wir ein „Wohnzimmer“, erklärt Marcus Zechelius. Die Menschen, die hier leben sind gerade nicht da. Eigentlich wollte ich ein paar Fotos aufnehmen. Das ist aber nicht erlaubt. „Du musst dir vorstellen, dass dieser Ort wie eine Wohnung der Menschen anzusehen ist, die hier leben. Und auch, wenn es keine Wände und Türen gibt, wir dürfen hier nicht einfach reingehen, das macht man bei dir zuhause ja auch nicht.“ Zum ersten Mal bin ich mit greifbarer Armut konfrontiert. Mitten in unserer reichen Wohlstandsgesellschaft. Unvorstellbar für mich, wie man hier leben kann. Überall liegt Müll. Leere Käsepackungen, bunte Plastikabfälle, verdreckte Kleidung. Inmitten dieses Mülls befindet sich ein kaputtes Zelt. Die Stangen ragen an den Seiten heraus, darin durchnässte Schlafsäcke. Mit ein paar Rasenkantensteinen wurde eine provisorische Feuerstelle gebaut, auf der wohl gekocht wird. Der beißende Geruch verbrannter Kohle steigt mir in die Nase, der Wind pfeift mir durch die Knochen. Es ist vollkommen ruhig. Ich fange an zu begreifen, dass hier wirklich Menschen leben – jeden Tag und das bei diesen Temperaturen.

Auf der Fahrt zur nächsten Platte unterhalte ich mich mit Mechthild Bünker. Sie erzählt mir, wie viel Empathie und Herzblut sie und die anderen beiden in ihre Arbeit investieren und wie belastend das sein kann, wird mir später am Tag bewusst. Wir fahren auf ein Gelände neben einem Wohngebiet mit vielen hochpreisigen Wohnungen. In Sichtweite befindet sich eine kleine Wellblechhütte an einer Backsteinmauer. Der Geruch von frisch gekochtem Grünkohl zieht mir in die Nase. Heute steht knapp 20 Meter weiter ein Food Truck vor einem Firmengebäude. Direkt daneben: Die Unterkunft eines Mannes, der sich das vermutlich gar nicht leisten kann und nicht einmal ein richtiges Dach über dem Kopf hat. Die knapp vier Quadratmeter große Hütte ist an den Seiten mit Wolldecken abgehängt, um wohl für etwas Wärme zu sorgen und gegen den Wind zu schützen. Die Nachbarn haben sich in diesem Fall dafür eingesetzt, dass der Mann hierbleiben kann. Es gibt sie also doch noch, diese Nächstenliebe. „Was eine großartige Aktion“, denke ich mir. Ich empfinde das Bild fast schon als Provokation und Kontrastbild unserer Gesellschaft, in der es Leute gibt, die ihr Vermögen immer weiter vermehren, ohne dafür auch nur einen Finger krumm zu machen und in deren „Vorgärten“ Menschen leben, die sich nicht einmal ihr Essen leisten können und Angst haben müssen, nachts zu erfrieren. Im Normalfall unterhalten sich die Streetworker mit den Menschen, fragen, ob alles in Ordnung ist, bieten Hilfe an, verteilen Essensgutscheine und kostenlosen Kaffee zum inneren Aufwärmen, doch der Bewohner der Hütte ist heute nicht da.

Unser Zeitplan ist knapp, wir fahren weiter. Nun geht es zur Bahnhofsmission. Ein zentraler Anlaufpunkt vieler Wohnungsloser und Drogenabhängiger. An einer Ampel halten wir an. Das Handy von Marcus Zechelius klingelt. „Ach du meine Güte!“, höre ich ihn sagen. Nachdem er aufgelegt hat, erzählt er uns, dass die junge Frau, die heute zur Therapieeinrichtung kommen sollte, dort nicht aufgenommen werden kann. Kurz bevor wir den Bahnhofsplatz erreichen, drückt dieses Telefonat die Stimmung. Während wir die beiden Lastenräder abstellen, mit denen die Streetworker, bewusst auffällig, durch die Straßen fahren, sehen wir zwei Rettungswagen, die direkt vor dem Bahnhof halten. „Hoffentlich keiner von unseren Leuten.“, sagt Mechthild Bünker besorgt, während sie ihr Fahrrad abstellt. Am Eingang treffen wir auf eine Gruppe von Leuten, die die drei wohl kennen – Klienten der Streetworker. Ein Mann wirkt völlig benommen. Er unterhält sich mit uns und erzählt, dass er seine Augen kaum offenhalten kann, weil er so stoned sei. Ich gucke auf meine Uhr: Es ist kurz vor 12. Es macht mich bedrückt und traurig. Es werden Bonbons verteilt. Die Leute freuen sich über den Besuch der drei Streetworker. Trotz des Drogenkonsums – bei ihnen scheint heute alles den Umständen entsprechend normal zu sein. Auf dem Weg zur Bahnhofsmission wird ein Patient auf einer Trage zum Krankenwagen nach draußen gebracht. Es ist keiner, den die drei kennen. Die Angst, dass etwas Schlimmes passiert, ist immer mit dabei. Schließlich kennen sie viele dieser Menschen schon seit vielen Jahren.

In die Bahnhofsmission kommen Menschen, um sich aufzuwärmen, sich kostenlos einen Kaffee oder ein Käsebrot abzuholen. Immer wieder fällt das Wort „niedrigschwellig“ – der Grundsatz der Straßensozialarbeit. Man versucht, einen emotionalen Zugang zu den Menschen auf der Straße zu bekommen, um von Problemen zu erfahren und um helfen zu können. Vier Festangestellte und viele Ehrenamtliche helfen den Menschen in der Bahnhofsmission und schauen in Zusammenarbeit mit den Streetworkern immer nach dem Rechten. Marcus Zechelius geht in den Hinterhof des Bahnhofs. Er wirkt besorgt und angespannt. „Die Frau, die nicht in die Therapieeinrichtung aufgenommen wird, darf unter keinen Umständen wieder zurück auf die Straße kommen. Dann war alles umsonst und der Kreislauf beginnt erneut. Ich muss versuchen, dass sie zurück in die Entzugsklinik kommen kann.“, erzählt er mir. Die anderen unterhalten sich währenddessen mit den Mitarbeitern der Bahnhofsmission. Heute scheint alles ruhig zu sein. Ein junger Mann war hier und hatte Probleme mit seinem Zugticket – auch um solche Dinge kümmern sie sich hier. Mit Erfolg. Ein paar Gäste sitzen an den Tischen in der sehr einfach eingerichteten Bahnhofsmission. Wenn den Mitarbeitern etwas auffällt oder sie im Gespräch mit den Gästen etwas erfahren, versuchen sie auch immer, zusammen mit den Streetworkern an eine passende Stelle weiterzuvermitteln. Derk Stürenburg erzählt, dass wohnungslose Menschen oft in eine Schublade gesteckt werden. Doch es gibt auch viele gebildete Leute, die wohnungslos sind. Meist spielen Schicksalsschläge und Drogenkonsum eine große Rolle. Durch jahrelangen Konsum verliere man den Blick für die Realität und könne seine Probleme nicht mehr bewältigen. Letzte Station sei oft die Straße. Und genau hier versuchen die drei, zu helfen.

Die Bahnhofsmission im Oldenburger Bahnhof ist eine zentrale Anlaufstelle für viele Bedürftige in der Stadt. Die Streetworker schauen hier, in enger Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern der Einrichtung, nach dem Rechten.

Die Bahnhofsmission im Oldenburger Bahnhof ist eine zentrale Anlaufstelle für viele Bedürftige in der Stadt. Die Streetworker schauen hier, in enger Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern der Einrichtung, nach dem Rechten.
Foto: Pascal Klug

Wir müssen weiter, der Zeitplan ist straff, denn schon um 14 Uhr endet die Schicht der Streetworker an diesem Tag. Wir fahren in die Nähe der Weser-Ems-Hallen. Hier unterhalten sich gerade acht Menschen an einer Bushaltestelle, die so verdreckt ist, dass man sich beim Warten auf den Bus nicht einmal hinsetzen würde. Immer wieder riecht es nach Alkohol. Mehrere Männer – vermutlich aus dem osteuropäischen Raum – stehen dort, mitten am Tag, und trinken Bier. Die Streetworker hatten mir erklärt, dass es viele Menschen aus diesem Raum gibt, die nach Deutschland kommen, um hier zu arbeiten – oft zu ganz schlechten Arbeitsbedingungen. Häufig kommt es dann vor, dass sie hier ankommen, die Arbeitsverträge aber nicht eingehalten werden. Dann haben sie keine Arbeit, keinen Anspruch auf Sozialleistungen, kein Geld und eben auch keine Wohnung. Oft ist die Folge starker Alkohol- und Drogenkonsum.

Freude wird erkennbar, als die Menschen die Streetworker sehen. Mechthild Bünkers Fahrrad kippt um. Bevor wir ihr helfen können, kommt uns einer der Männer zu Hilfe. Die meisten der Männer wirken freundlich, zuvorkommend, dankbar. Wir öffnen die Kiste des Lastenrads und holen ein paar Pappbecher und zwei Kaffeekannen raus. Wir bieten Kaffee an, der dankbar angenommen wird. Die Streetworker unterhalten sich mit den Menschen, informieren sich, gucken, ob etwas benötigt wird. Ein Mann hat keine Handschuhe. Mechthild Bünker schenkt ihm ein Paar, das sie für solche Fälle dabei hat. Er bedankt sich und sagt zu ihr „Ich komme gleich wieder, du weißt ja warum“. Sie klärt mich auf: „Der Mann ist stark heroinabhängig. Der wird sich wohl einen Schuss setzen.“ Mir wird ganz anders. Bisher hatte ich mit harten Drogen nichts am Hut, rauche nur meine E-Zigarette. Ein echter Schock. Ich beginne ein Gespräch mit einem anderen Mann, der nun wieder eine Wohnung gefunden hat, vorher aber mehrere Monate auf der Straße gelebt hat, weil ihm seine Wohnung abgebrannt ist. Ich frage ihn, wie man es bei solchen Temperaturen aushält. Er habe immer wieder in der Nacht aufstehen müssen, um sich zu bewegen – es sei kaum auszuhalten gewesen.

In der Nähe der Weser-Ems-Hallen versorgen die Streetworker ihre Klienten mit heißem Kaffee. Hierbei erkundigen sie sich immer nach allem, was gerade auf der Straße los ist und versuchen, zu helfen.

In der Nähe der Weser-Ems-Hallen versorgen die Streetworker ihre Klienten mit heißem Kaffee. Hierbei erkundigen sie sich immer nach allem, was gerade auf der Straße los ist und versuchen, zu helfen.
Foto: Pascal Klug

Wir packen unsere Sachen zusammen und fahren weiter zum letzten Ort an diesem Tag, dem „Café CaRo“. Die Einrichtung des Sucht- und Jugendhilfeträgers STEP gGmbH ist ein Treffpunkt vor allem für Suchterkrankte. Vor dem Café stehen schon einige Menschen. Freude in den Augen der Menschen wird sichtbar, als wir erscheinen. Marcus Zechelius räumt mit einem großen Vorurteil auf. Er sagt, Gewalt sei nicht der Normalfall: „Man hat ja immer das Bild im Kopf, dass diese Menschen höchst gewalttätig und gefährlich sind. Ab und zu kann das natürlich vorkommen, vor allem wenn Drogen im Spiel sind. Das ist aber wirklich der absolute Ausnahmefall. Uns begegnet oft eher Dankbarkeit.“

Ein verwirrt wirkender Mann kommt auf uns zu. Er beginnt, mit der Hauswand zu sprechen. Ich merke, dass ich angespannt werde. „Was will der jetzt von uns?“, denke ich mir. Doch die drei Streetworker begegnen ihm mit viel Freude und Empathie, woraufhin er zu lächeln beginnt. Man merkt, dass sie die Straße schon viele Jahre kennen und wissen, wie sie mit den Menschen umgehen müssen. Ein jüngerer Mann berichtet uns von einem Unfall, bei dem er sich die rechte Bauchseite aufgerissen habe. Mechthild Bünker möchte die Wunde sehen. Er zieht bei der Eiseskälte sein T-Shirt nach oben. Uns springt eine große Reißwunde entgegen. Die gelernte Krankenschwester, die ursprünglich im Pius ausgebildet wurde, hat für solche Fälle immer ein Notfallset dabei. Sie gibt ihm Verbandsmaterial, Wunddesinfektionsmittel und eine Salbe. Der Mann ist dankbar.

Wir sprechen kurz mit den Mitarbeitern des „Café CaRo“, mit denen die Streetworker eng zusammenarbeiten. Hier trifft man gemeinsame Klienten, wie die Streetworker die Menschen nennen, um die sie sich kümmern, und erhält immer einen Überblick über das, was gerade auf der Straße los ist. Bei Problemen, kann so schnell interveniert werden. Die Mitarbeiter erzählen uns, dass mit dem „Café CaRo“ im Jahr 1978 ein Treffpunkt für suchterkrankte, substituierte sowie alkoholabhängige und psychisch kranke Personen geschaffen wurde. Hier darf Alkohol konsumiert werden – harte Drogen sind jedoch verboten. Es gibt auch eine Ausgabe von sauberem, kostenlosen Drogenbesteck. „Konsumieren werden einige sowieso und bevor sie verdrecktes Besteck benutzen und sich so der Gefahr ausliefern, Krankheiten wie HIV oder Hepatitis zu bekommen, erhalten sie zumindest steriles Besteck. Das ist ganz wichtig“, erklärt einer der Mitarbeiter. „Oft schaffen wir es, einen niedrigschwelligen Zugang zu den Konsumierenden zu bekommen. Wir unterstützen sie dabei, ihr Leben selbstbestimmt und – wenn sie es möchten – frei von Abhängigkeit zu führen. Dabei arbeiten wir auch eng mit den Streetworkern zusammen.

Das „Café CaRo“ ist an diesem Tag der letzte Tagespunkt für die drei Streetworker. Hier tauschen sie sich mit den Mitarbeitern der Einrichtung aus und versuchen, in engem Austausch, Probleme zu erkennen.

Das „Café CaRo“ ist an diesem Tag der letzte Tagespunkt für die drei Streetworker. Hier tauschen sie sich mit den Mitarbeitern der Einrichtung aus und versuchen, in engem Austausch, Probleme zu erkennen.
Foto: Pascal Klug

Es ist mittlerweile schon 14.30 Uhr. Die Schicht von Mechthild Bünker und Marcus Zechelius ist schon beendet – Derk Stürenburg bleibt noch etwas länger. Trotzdem stehen auch die anderen beiden immer noch neben uns. Wichtigste Erkenntnis für mich: Ein großes Vorurteil, an das ich auch selbst bisher geglaubt habe, ist ganz klar falsch – nämlich, dass „niemand in Deutschland auf der Straße leben muss“. Ich habe heute erfahren, dass es viel schneller gehen kann, als man so denkt: ein Wohnungsbrand, ausbleibende Arbeitsverträge von Gastarbeitern, zu wenige Sozialwohnungen. Manchmal gibt es einfach keine Wohnung, in die die Menschen einziehen können, obwohl unzählige Wohnungen einfach leer stehen. Der Trend, immer teurere Wohnungen zu errichten, hat eben ganz klare Schattenseiten.

Bevor wir gehen, frage ich noch, was aus der Frau geworden ist, die nicht in ihre Therapieeinrichtung kommen durfte. Die Streetworker erzählen mir, dass sie zurück in die Entzugsklinik gekommen ist und nicht zurück auf die Straße musste. Ein letztes Aufatmen. Erleichterung, obwohl ich die Frau gar nicht kenne.

Obwohl wir heute viele schlimme Dinge gesehen haben, ist dies ein ganz normaler Arbeitstag der Streetworker – ohne große Vorkommnisse. Sie versuchen zu helfen, zu vermitteln und den Leuten immer eine Anlaufstelle zu sein.

Eine Erfahrung, die ich wohl in meinem ganzen Leben nicht vergessen werde. Zum ersten Mal betrete ich dankbar meine Wohnung und freue mich bewusst über die trockene, warme Heizungsluft, die mir entgegenspringt. In Zukunft sehe ich die Welt mit anderen Augen.

Aufgabenbereiche der Streetworker

Die Straßensozialarbeiter der Diakonie Oldenburg sind tagtäglich in der Innenstadt unterwegs und bieten Beratung und Vermittlung in Hilfesysteme und begleiten Betroffene zu Ämtern und Behörden. Zudem leisten sie Hilfestellung für Personen mit chronifizierten Suchterkrankungen, die Hilfe benötigen und in besonderen sozialen Schwierigkeiten leben, sich in der Gefahr und Verwahrlosung befinden, bereits in Wohnungslosigkeit leben oder aus Sozialpsychiatrie oder Haft und aus Krankenhäusern und Fachkliniken entlassen werden. Ziel der Arbeit ist das Angebot von niedrigschwelliger Hilfe, das Erkennen von Verelendung und dessen Auffang, das Sichten vom Krankheitszustand der Klienten, die Motivation zu einer Behandlung und das Angebot einer Ausstiegshilfe aus der Sucht.

Ehrenamtlicher Zahnarzt benötigt

Um das kostenlose medizinische Angebot für Wohnungslose zu erweitern, wird aktuell ein ehrenamtlicher Zahnarzt gesucht, der sich zusammen mit den Streetworkern um die Zahnbehandlung der Klienten kümmert. Ansprechpartnerin ist Mechthild Bünker: Mobiltelefon 01520 8898475, E-Mail MedGV@diakonie-ol.de.

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1 Kommentar

  1. Kammann
    23. Februar 2023 um 10.23 — Antworten

    Sehr gut beschrieben und geschrieben..es ist toll das sich Menschen kümmern und es ist wichtig..es gibt viel Leid auf der Welt aber wir unterschätzen das es auch gleich vor der Haustür ist.. dankbar das wir ein Dach über Kopf haben und essen und trinken.. tolle Arbeit an die Streetworker..und das der Artikel so ausführlich geschrieben wurde…man fühlt sich als wen man dabei gewesen war..mal kein Artikel mit Zahlen und Fakten…mfg Jeanette Kammann

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